Andreas Kriegenburg inszeniert am Schauspiel Frankfurt die deutsch-sprachige Erstaufführung von Patrick Marbers „Drei Tage auf dem Land“, eine Adaption von Iwan Turgenjews Stück „Ein Monat auf dem Lande“.
Von Mark Seebürger, 05.03.2017
Alles ist Spiel
Während die Zuschauer den Theatersaal betreten, ist auf der Bühne das Spiel bereits im Gange. Nicht nur das darstellerische Spiel, sondern auch das Kartenspiel von Mutter Anna (Heike Ecks), dem alten englischen Hauslehrer Shepherd (Michael Benthin) und Annas Gesellschafterin Lisaweta (Verena Bukal). Die (Schau-)Spieler reizen und stechen auf vergnügte und unterhaltsame Weise aus, spielen einander aus, schummeln, lenken ab und lassen sich nicht in die Karten schauen. Dieses Leitmotiv des Stücks und der Inszenierung ist auch gleichzeitig das Leidmotiv aller Figuren (Freunde, Lehrer, Nachbarn, Familienmitglieder, Affairen, Dienstboten), die sich in drückender Sommerhitze auf dem sichtlich verfallenen Landsitz des Gutsherrn Arkadij (Isaak Dentler) und seiner Frau Natalja (Franziska Junge) tummeln.
Es wird endlos palavert, offen miteinander geflirtet, erotisiert gerangelt, und das jeweilige langjährige oder neue Objekt der Begierde wird zu umarmen und festzuhalten versucht. Das ist äußerst amüsant und leicht-dahinperlend gespielt: nach Peter Schröders hochkomischem Auftritt als alter Nachbar Bolschinzow gab es Szenenapplaus, die Gesangs- und Musikeinlagen aller weiblichen und einiger männlichen Darsteller sind sehr harmonisch, die subtil-erotisch aufgeladene Spannung zwischen vielen Figuren ist fast greifbar. Doch alle Liebesaktionen und -versuche, von Kriegenburg gewohnt wunderschön subtil, exemplarisch, körperlich und augenzwinkernd komisch inszeniert, bleiben sichtlich belanglos und sind Ausdruck einer unter der perlenden Heiterkeit brodelnden tiefen Verzweiflung. Spätestens in der Nachtszene, wenn die unterdrückten und unbefriedigten Gefühle aller durch exzessiven Alkoholkonsum aufgerührt sind, bekommt die vermeintliche Land-Sommer-Flirt-Idylle tiefe Risse, blättert die Fassade ab wie die Farbe der Gutsbesitzwände.
Angefüllte Leere, herzliche Kälte
So wie der Gutsbesitz mit Dutzenden von Stühlen, Klavier und Lampen vollgestopft ist, so sind auch alle Figuren geradezu mit ihren unerfüllten Sehnsüchten und Frustrationen bis zum Bersten vollgestopft. Aggressionen und Handgreiflichkeiten bahnen sich ihre Wege und die Inszenierung nimmt langsam und subtil ihre Wende von der Liebeskomödie hin zum Liebesdrama. In all dieser inszenierten Seichtheit und dem verspielten Esprit wird dem zehnjährige Sohn Kolja (Ben Schmitt) als euphorisch-lebhaftes Wesen von den Erwachsenen „übel“ mitgespielt: er wird bespaßt, geherzt, ihm wird der Kopf herzlichst gestreichelt und gerubbelt, und es wird ihm statt seines alten Englischlehrers Shepherd der junge, attraktive Lehrerstudent Beljajew (Owen Peter Read) zur Seite gestellt, unter welchem Kolja begeistert seine Bereitschaft zum Lernen zeigt.
Aber niemand kümmert sich wirklich um ihn und Unaufmerksamkeit und Verantwortungslosigkeit seiner Kontaktpersonen entlarven sich allmählich. Drastisch erkennbar wird dies in einer späteren Stuhlchoreografie, in welcher alle Erwachsenen zunächst nirgends „ihren Platz finden“ und dann, körperlich wie emotional unendlich weit von einander entfernt, Kolja von sich wegschieben, statt ihm auf ihren Knien sitzen lassend Trost und Nähe zu spenden. Der mehrfach verstoßene Kolja schießt auf die hartherzigen, egomanen Ignoranten mit seiner Spielzeugpistole – aber niemand wird getroffen, weil niemand betroffen ist. Ein in seiner Einfachheit höchst berührendes Bild; und vielleicht ein mahnender Zukunftskommentar des Regisseurs und der Autoren Iwan Turgenjew und Patrick Marber.
Unaufgeregtes Betrachten, liebevolles Verständnis
Doch trotz all des Leides, trotz Nataljas sarkastischer Töne, trotz vieler überschwänglicher Gefühlsausbrüche ist Kriegenburgs Inszenierung ungewöhnlich zurückhaltend, behutsam, schwebend, und ermöglichte mir als Zuschauer ein unaufgeregtes, distanziertes Betrachten der Vorgänge. Größtenteils konnte ich mich mit einem Resonanz-freudigen Publikum herzlich lachend oder schmunzelnd am Spiel des Ensembles und an den Wort- und Slapstickgags erfreuen. Und auch wenn ich mich beim gestrigen Aufführungsende irritierend ruhig, wenn auch etwas leer fühlte, wühlten mich heute die Nöte und das Scheitern der Figuren dann doch sehr auf und stellen existentielle Fragen auf – ein unerwarteter nachhaltiger Eindruck des Stückes und von Kriegenburgs zärtlicher, verständnisvoller Sicht- und Fühlweise auf die Situation der Figuren.
Was bleibt ist das Herz
Nachdem jeglicher Betrug und alle Verstrickungen, Lügen und Illusionen aufgedeckt sind, nachdem in einer erschütternd dramatischen Szene ihrer forciert-medizinischen Ruhigstellung Natalja schluchzend am Boden liegt, nachdem der von vielen begehrte Beljajew ohne Ankündigung das Gut verlassen hat und somit auch keine Gefahr mehr bedeutet, widmet sich der alte englische Hauslehrer Shepherd wieder seinem Schüler Kolja, indem er ihm das Kartenspielen (!) beibringen will. „Lass dir nicht in die Karten gucken! Wie viele Herzen hast du?“, fragt er Kolja. „Drei? Die wirst du auch brauchen!“ – derweil daneben die tieftraurige, vielleicht traumatisierte Natalja unbeachtet „zwischen den (verteilt aufgestellten) Stühlen“ umherirrt. Ein skeptischer, aber nicht pessimistischer Kommentar gegenüber der heutigen Liebes-, Lern- und Risikobereitschaft in Zeiten von Totalerfüllung-versprechender Partnervermittlungen.
Braucht es tatsächlich drei Herzen, um in der heutigen Gesellschaft und in Liebesbeziehungen standhalten zu können? Reicht ein Herz, um das man sich aber, egal ob monogam oder promiskuitiv lebend, stets selbst- und fremdfürsorglich kümmern sollte? Wie ist es mit der Balance zwischen Verstand und Herz bestimmt?
Das Herz dieser Fragen-in-der-Schwebe-haltenden Inszenierung scheint mir ein leises pochendes zu sein – aber ein immerhin noch pochendes!
Teilweise jubelnder Applaus mit einzelnen Standig Ovations für die beachtliche Ensembleleistung, das tolle Schauspieler-Theater, für die frisch-aktualisierte Modernisierung durch den Autor Patrick Marber und für eine behutsam-zärtliche Regie.