Ein Stück Lebensweg mit dem Mikrofon nachzeichnen und Menschen eine Stimme geben: Im Mittelpunkt der Arbeit von Journalistin und Audiobiografin Judith Grümmer steht seit mehr als 30 Jahren der Mensch und seine Geschichte(n). Aktuell ermöglicht sie, schwer erkrankten Vätern und Müttern im Rahmen eines Forschungsprojektes ihre Lebensgeschichte als Familienhörbuch für die eigenen Kinder und Angehörige aufzuzeichnen. Im Gespräch über ihre Arbeit beeindruckte uns Judith Grümmer mit ihrem Enthusiasmus und Optimismus.
Frau Grümmer, seit wann beschäftigen Sie sich in Ihrer journalistischen Arbeit mit der Palliativmedizin?
Ich habe sehr früh angefangen journalistisch zu arbeiten, da ich damit auch mein Studium finanziert habe. Meine Themen waren schon damals Medizin, Religion und Kirche und so bin ich sehr schnell mit der Palliativmedizin in Kontakt gekommen. Dieser medizinische Ansatz kam in den 80er-Jahren aus den USA nach Deutschland und wurde kontrovers diskutiert. Damals gab es viele Missverständnisse, man hielt Palliativmediziner sogar für aktive Sterbehelfer. Als an der Kölner Universitätsklinik 1983 die ersten Betten für Palliativmedizin entstanden, habe ich direkt Interviews mit den ersten Ärzten und Patienten gemacht. Seitdem hat mich das Thema nicht wieder losgelassen.
Macht es Sie nicht traurig, sich mit dem ernsten Thema Sterben zu beschäftigen, dem die meisten Menschen lieber aus dem Weg gehen?
Ich habe das nie als traurig empfunden, weil ich glaube, dass man das Leben als sehr viel kostbarer erlebt, wenn man sich immer wieder bewusst macht, dass das Leben endlich ist. Und irgendwann muss sich jeder mit dem Sterben auseinandersetzen. Entweder, weil Angehörige sterben oder weil man sich selbst darauf vorbereiten muss. Ich habe gelernt, damit umzugehen. Ich fühle mit den Menschen, aber ich leide nicht mit ihnen. Die Menschen sehen mich als Medium, dem sie auch Dinge erzählen können, die sie niemals in ihrem Leben ausgesprochen haben. Das sind gar nicht mal irgendwelche bösen Familiengeheimnisse, sondern einfach Dinge, die man den Angehörigen nicht erzählt, um sie nicht zu belasten. Es erfüllt mich, Menschen besonders in dieser Lebensphase eine Stimme zu geben.
Sie haben früh damit begonnen, Hörbücher für Familien und Palliativpatienten zu produzieren …
Schon 2004 habe ich ein Familienhörbuch gemacht, das von der Deutschen Krebshilfe seitdem auch kostenlos verbreitet wird: “Leben Sie wohl. Geschichte der deutschen Palliativmedizin”. Ich hatte das Glück, die erste deutsche Palliativmedizinerin Ingeborg Jonen-Thielemann während ihrer letzten Arbeitstagen zu begleiten und mich mit ihr über Gott und die Welt, über das Leben und das Sterben zu unterhalten. Im Laufe der Jahre habe ich immer wieder für die Kölner Uniklinik insbesondere ehrenamtlich gearbeitet. Auch für stationär aufgenommene Palliativpatienten der Kölner Universitätsklinik biete ich dem Gesundheitszustand angepasste, kurze Interviewgesprächen an, in denen Facetten der eigenen Biografie in Form eines Patientenhörbuches erarbeitet werden können.
Sie erstellen auf Anfrage auch Familienhörbücher für selbst zahlende Privatleute. Fällt es den Interviewten immer leicht zu erzählen?
Wenn Enkelkinder ihrer Großmutter oder ihrem Großvater eine solche Familienhörbuch-Produktion schenken, sagen “die Älteren” oft “Mein Leben war doch völlig unspektakulär. Ich weiß ja gar nicht, was ich erzählen soll”. Und wenn man dann anfängt mit ihnen zu sprechen und zuzuhören, merken sie, dass es ja nicht die Geschichte sein muss, die die Welt verändert. Jeder Einzelne, ob jung oder alt hat seine Geschichte, die bewahrenswert ist.
Wie entstand das neue Projekt an der Uniklinik Bonn?
Ich hatte eine Frau kennengelernt, die mit 70 Jahren eine Brustkrebserkrankung überstanden hatte und sich selbst zum Abschluss ihrer Therapie dieses Hörbuch geschenkt hatte. Das war für mich eine Initialzündung, mich noch intensiver mit dem Thema zu beschäftigen und ich fing an Konzepte zu schreiben. Daraus ist das Audiobiografie-Projekt “Schwer erkrankte Mütter und Väter erzählen für ihre Kinder” entstanden, das an der Bonner Universitätsklinik angesiedelt ist und seit März 2017 von der Rhein-Energie Stiftung gefördert wird.
Dabei hatte ich von vornherein die Idee, dass dies nur funktionieren kann, wenn es wissenschaftlich begleitet und an einem Institut in das medizinische System eingegliedert wird. Dafür konnte ich Professor Radbruch gewinnen, den Direktor der Klinik für Palliativmedizin am Universitätsklinikum Bonn und Leiter des Zentrums für Palliativmedizin am Malteser Krankenhaus Bonn/Rhein-Sieg. Zudem ist er Präsident der Deutschen Gesellschaft Palliativmedizin. Ich engagiere mich für die Idee, Familienhörbücher langfristig als ein Therapie begleitendes Angebot im deutschen Gesundheitswesen zu etablieren. Um das Ziel zu erreichen, ist es ganz wichtig, die aktuelle Pilotstudie und das Projekt zu erweitern. Dafür mache ich mich stark.
Gibt es eine Begegnung während ihrer Arbeit, die Sie besonders berührt hat?
Uns hat eine Frau kontaktiert, die sagte, sie hätte keine Zeit mehr. Sie bekam beim Sprechen kaum noch Luft. Als ich dann zu ihr kam, hatte ich Zweifel, ob sie es überhaupt noch schafft, ihre Geschichte zu erzählen. An den folgenden drei Tagen war sie topfit. Sie hat von morgens bis abends alle Kraft zusammengenommen. Zehn Tage später ist sie gestorben. Ihr Mann schrieb mir später, wie glücklich sie war, dass sie das noch ihrer dreijährigen Tochter mitgeben konnte. Neben diesen Einzelschicksalen berührt mich diese unglaubliche Kraft, mit der Mütter und Väter angesichts des Sterbens alles tun, um ihren Kindern etwas von sich für die Zukunft mitzugeben.
Sie haben Ihren Mann begleitet, der im Februar 2018 gestorben ist. Wie prägt die professionelle Beschäftigung mit dem Thema Sterben Ihren persönlichen Umgang?
Als die Diagnose meines Mannes über seine Erkrankung kam, dachte ich, dass ich bei anderen immer gut zugehört und es gut gemacht habe, aber jetzt musst du zeigen, wie du selbst in der Situation damit umgehst. Darüber reden ist eine Sache, aber selbst begleiten ist etwas ganz anderes. Ich zwar genauso traurig und fassungslos und habe auch alle Phasen der Verzweiflung, Wut und Trauer mitgemacht habe. Aber ich hatte Menschen, mit denen ich darüber reden konnte. Es war dann tatsächlich so, dass mein Mann auf der einen Palliativstation lag und ich währenddessen auf der anderen Interviews gemacht habe. Das hat mich gestärkt und gleichzeitig bestärkt, das Projekt nicht aufzugeben. Das heißt nicht, dass ich als Angehörige weniger verzweifelt war, aber es hat mir und der Familie geholfen immer wieder darüber zu reden.
Was macht das Reden mit den Menschen?
Ich glaube, dass man sich über das Reden sortieren kann, indem wir uns Fragen stellen wie: Wo möchtest du sterben? Wie möchtest du sterben? Das ist ein Thema, dem mein Mann und ich uns auch tatsächlich erst auf der Palliativstation nähern konnten. Diese Erfahrung hat mich unglaublich gestärkt, auch für meine Arbeit.
Herzlichen Dank für das Gespräch.