Zunehmend mehr ist das Auswendiglernen als ineffektive Lernmethode von anno dazumal in Verruf geraten. Als Lernform hat es in unserem Kulturkreis weitgehend dem Verständnislernen Platz gemacht. Aber ist das Auswendiglernen wirklich überflüssig?
Beim Auswendiglernen werden Inhalte explizit und absichtsvoll wiederholt, um sie im exakten Wortlaut der Vorlage im Gedächtnis zu speichern und jederzeit wiederholen zu können. Früher war dies als gängige Lernmethode Bestandteil des deutschen Schulsystems. Zunehmend prägte sich jedoch ein Verständnis des Auswendiglernens als Gegenpol zum Verständnislernen. Bereits der französische Philosoph und Erziehungswissenschaftler Rousseau war Gegner des Auswendiglernens. Allmählich verschwand es immer mehr – nicht nur aus den Schulen, sondern auch aus dem Alltag der Menschen.
Auswendiglernen als Erhalt der Geschichte
Dabei brachte der Abruf auswendig gelernter Inhalte der Menschheit bereits bedeutenden Nutzen: Nur dadurch konnten viele wichtige Ideen die Geschichte überdauern. So sind zum Beispiel die im Stalinismus unliebsamen Texte des Dichters Ossip Mandelstam für die Nachwelt erhalten geblieben. Seine Freunde und Gattin haben diese einfach auswendig gelernt. Ähnliches geschah während der chinesischen Kulturrevolution mit tibetischen Texten. Die meisten Texte hätten nie wieder im Ausland aufgelegt werden können. Sie haben jedoch einfach Jahre in den Gedächtnissen der Tibeter überlebt. Außerdem kommt echte Bildung nicht ohne diese Art des Lernens aus: Vokabeln, Gedichte, Formeln und Handlungsabläufe erarbeitet man sich nach altbewährter Manier.
Training für den Kopf
Für Menschen, die Ihr Gedächtnis trainieren und ihre mentale Leistungsfähigkeit erhalten möchten ist und bleibt Auswendiglernen die Methode Nummer Eins. Gerade für Ältere empfiehlt es sich. Durch das auswendig lernen von Texten oder Gedichten, werden Nervenzellen neu verknüpft und verstärkt. Die Formung des Gehirns funktioniert somit bis ins hohe Alter!
Wilhelm von Humboldt bringt seine ganz persönliche Freude am Auswendiglernen treffend auf den Punkt:
„Das eigene Auswendiglernen und Auswendigwissen von Gedichten, oder von Stellen aus Gedichten, verschönert das einsame Leben, und erhebt oft in bedeutenden Momenten. Ich trage mich von Jugend an mit Stellen aus dem Homer, aus Goethe und Schiller, die mir in jedem wichtigen Augenblicke wiederkehren, und mich auch in den letzten Momenten des Lebens nicht verlassen werden. Denn man kann nichts Besseres tun, als mit einem großen Gedanken hinüber gehen.“