Wie kann Architektur ein gemeinschaftliches Miteinander fördern? Die Antwort auf diese Frage heißt heute Quartierskonzept, Sozialraumplanung oder lebendige Nachbarschaft. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Das bedeutet, zu den Grundbedürfnissen gehört nicht nur ein Dach über dem Kopf und etwas zu Essen, sondern vor allem der Austausch mit und die Beziehungen zu anderen Menschen.
Gemeinschaft und Barrierefreiheit
Das ist die Basis aller Ansätze, die sich mit zukunftsfähigen Modellen für gebaute Lebenswelten beschäftigen. Es lässt sich einleuchtend argumentieren, dass es bei einer Wohnform für ältere Menschen nicht allein auf ein barrierefreies Zuhause ankommt. Der Wohnkomfort in den eigenen vier Wänden ist zwar sehr wichtig, aber eben nur die halbe Wahrheit. Denn was nutzt die tollste schwellenlose Wohnung, wenn die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht gewährleistet ist, keine Einkaufsmöglichkeiten für die Deckung des täglichen Bedarfs vorhanden sind oder man dafür in eine fremde Umgebung ziehen müsste.
Wenn man die Menschen befragt, dann sollte am liebsten alles beim Alten bleiben, die eigene liebgewordene Wohnung mit all den schönen Erinnerungen, der tollen Hausgemeinschaft, den lieben Nachbarn und dem Bäcker an der Ecke. Viele möchten in ihrem bekannten Viertel bleiben, in ihrem Quartier. Nicht umsonst fällt bei einer Wohnberatung oft das Sprichwort: “Einen alten Baum verpflanzt man nicht.“
Das Quartier als Wohnform
Circa 40% aller Haushalte in Deutschland sind Einpersonenhaushalte. Vor allem für ältere Menschen besteht daher die Gefahr der Vereinsamung. Diese Altersgruppe nimmt noch weiter zu. Im Jahre 2050 wird jeder 3. Deutsche über 60 Jahre alt sein. Hier versucht der Quartiersgedanke Lösungen aufzuzeigen, wie die Versorgung gemeinschaftlich gelingen kann. Es gibt unzählige Ehrenamtsprojekte, Nachbarschaftstreffs und Freiwilligendienste bei denen man sich engagieren kann. Zum Glück ist hier ein Trend erkennbar, der zeigt, dass wir auf einem guten Weg sind zu einer sorgenden Gemeinschaft. Denn nur indem jeder für andere Verantwortung übernimmt, ist diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu bewältigen.
Was kann die Architektur nun dazu beitragen? Es braucht vor allem Anlässe zur Begegnung und Gelegenheiten mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Bei der Konzeptionierung eines Wohnquartiers denken viele zu allererst einmal an Begegnungsstätten, die Versorgung des täglichen Bedarfes oder auch die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr. Aber dass auch die Architektur selbst einen großen Anteil hat, wird oft erst auf den zweiten Blick wahrgenommen.
Was kann die Architektur dazu beitragen?
In jedem Gebäude sollte eine große Bandbreite an Wohnungsgrößen vorhanden sein. Diese Durchmischung bietet erst die Voraussetzung, dass unterschiedliche Haushaltsformen in einem Haus zusammenwohnen können. Der alleinstehende Rentner, die Alleinerziehende mit Kind, der berufstätige Single und die Familie. So wird der Mehrgenerationengedanke umgesetzt und Nachbarschaftshilfe unterstützt. Auch ein Wohnungstausch innerhalb eines Gebäudes wird möglich, wenn sich die Bedürfnisse verändern. Ein Senior könnte ins Erdgeschoss ziehen und eine Familie in die so frei gewordene Wohnung in der oberen Etage.
Gemeinschaftliche Wohnformen haben den Laubengang als Erschließung wiederentdeckt. Hier wird mit einem halböffentlichen Raum eine Zone der Begegnung geschaffen. Man sieht, wer vorm Küchenfenster vorbeigeht oder trifft den Nachbarn beim Verlassen der Wohnung. Der ehemals reine Erschließungsflur bekommt so Aufenthaltsqualität.
Nicht nur Innen, sondern auch Außen
Für die Lebensqualität spielt der Außenbereich eine große Rolle. Die Anordnung der Gebäude um einen gemeinsamen Innenhof ermöglicht gemeinsame Nachbarschaftsfeste oder andere gemeinsame Aktionen. Eine barrierefreie Wegeführung mit breiten Gehwegen, abgesenkten Bordsteinkanten und guter Beleuchtung und Beschilderung mindern die Hürden das Haus zu verlassen. Grünanlagen sollen zum Verweilen einladen. Das können zum Beispiel Generationenspielplätze sein, die für Erwachsene und Kinder Fitnessgeräte und Geschicklichkeits-Parcours anbieten. Lieblose Hinterhöfe und Abstandsflächen können durch Umgestaltung zu Wohlfühlorten werden und dazu beitragen, dass sich die Bewohner mit Ihrem Quartier identifizieren und gerne da wohnen.
Gelebte Nachbarschaften, wie wir sie aus dem dörflichen Raum noch kennen, sind klassische sorgende Gemeinschaften. Einer schaut nach dem anderen, bei Krankheit und Notsituationen hilft man sich ganz selbstverständlich. Auf der anderen Seite gibt es Gegenden, wo man selbst den nächsten Nachbarn nicht kennt. Solche anonymen Hochhaussiedlungen werden heute als Bausünden angesehen. Gerade dieses Beispiel macht deutlich, dass Architektur gute Voraussetzungen schaffen kann, gebaute Lebenswelt für eine sorgende Gemeinschaft zu werden.
Daher sehe ich es als vorrangige Aufgabe der Planer, bestehende Stadtviertel aufzuwerten und gerade den Bestand diesen neuen Erfordernissen anzupassen. Nur so kann auch die Architektur einen Teil dazu beitragen, lebendige Nachbarschaft im Quartier zu ermöglichen.
Herzlichst Ihre Sabine van Waasen