Ein denkwürdiger Tag sollte es werden, der 11. Dezember 2013, an dem das Thema Demenz Einzug hielt in den höchsten Ebenen der Politik. Beim G8 Gipfel in London sollte sie, „DIE Demenz“, zur Chefsache erklärt werden und damit schließlich und endlich Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen in Diagnostik, Therapie und dem täglichen Leben unterstützen.
Doch spätestens mit dem Satz des damaligen britischen Premierministers David Cameron, Demenz sei „die Pest-Erkrankung des 21. Jahrhunderts“, ging der sprichwörtliche Schuss nach hinten los. Um Häuser, in denen die Pest zu finden ist, hat man schon im Mittelalter einen großen Bogen gemacht.
Nichtsdestotrotz: Mit martialischen Ausdrucksweisen ist Herr Cameron nicht alleine. Und mit dem Schüren von Angst noch weniger. Bange machen ist in Deutschland ein probates Stilmittel, das in vielerlei Hinsicht funktioniert. Haben Sie schon einmal einen Kongress zum Thema Demenz besucht? Ich selbst war über ein Jahrzehnt Teil der „Community“. Von der gängigen Selbstbeweihräucherung und den seit Jahren unverändert gleichbleibenden Themen einmal abgesehen, dringen einzig und allein Zahlen und Phrasen ins Außen, die gezielt gestreut und von der Außenwelt völlig unreflektiert weiter verbreitet werden (ja, lange Zeit auch von mir, ich fasse mich gern an die eigene Nase): Derzeit leben in Deutschland ca. 1,7 Millionen Menschen mit einer Demenzerkrankung heißt es, Tendenz steigend. „Alle 100 Sekunden erkrankt in Deutschland ein Mensch an Demenz“, sagt Monika Kaus, die Vorsitzende der Deutschen Alzheimergesellschaft. Das bedeutet in Folge, auch im Jahr 2018 haben 300.000 Frauen und Männer eine Demenz-Diagnose erhalten.
Verdacht Demenz
Stimmt das? Sind die Diagnosen zutreffend? Gibt es wirklich so viele verschiedene Demenzformen, wie uns glauben gemacht wird? Die Medizinjournalistin Cornelia Stolze hat für ihr Buch „Verdacht Demenz“ ausgiebig recherchiert und kommt zu dem Schluss, dass die Diagnose Demenz in bis zu drei Viertel aller Fälle vorzeitig und falsch gestellt wird.
Außer Frage steht: Wortfindungsstörungen, Orientierungsstörungen, massive Beeinträchtigungen unserer alltäglichen Fähigkeiten, Störungen in der Motorik machen uns in unserer verkopften Gesellschaft Angst und können auf unterschiedlichste Probleme körperlicher und seelischer Natur hinweisen.
Ich möchte Sie über die vertrauten Bausteine unserer Demenz-Fibel „Erspüren – Verstehen – Handeln“ auch in diesem Kapitel zum Nachdenken und zum Neudenken einladen. Demenz – was ist das eigentlich?
Erspüren:
Klicken Sie sich mal durchs Netz und beobachten Sie, wie gerade beim Thema Demenz Sprache unsere Wirklichkeit erschafft: da ist selbst auf hochprofessionellen Pflegeseiten von DER Demenz als „heimtückischer“ Erkrankung die Rede, vom „Abschied vom ICH“, vom „Verlust der eigenen Persönlichkeit“. Das Wort Demenz ist lateinischen Ursprungs: „de-mens“ und meint „ohne Verstand, ohne Besonnenheit seiend“.
Im Frühjahr 1998 wurde ich selbst Opfer eines Raubüberfalls. Nach dem üblichen Prozedere bei der Polizei und einem kurzen Check-Up beim Arzt fand ich mich tags darauf mitten in der Stadt wieder und zwar völlig ahnungslos, wie ich dorthin gekommen war, was ich dort wollte, geschweige denn, wo ich mein Auto geparkt hatte – falls ich überhaupt eins besaß.
Ist doch logisch werden Sie jetzt vielleicht sagen: „typisch“ für eine posttraumatische Belastungsstörung, das geht ja wieder weg, aber das ist doch keine Demenz! Für eine Demenz müssen laut der offiziellen Definition die Symptome wie Störung von Gedächtnis, Orientierung, Sprache, Sprechen, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, eingeschränktem Urteilsvermögen in Folge einer chronischen und fortschreitenden Erkrankung des Gehirns mindestens seit 6 Monaten bestehen. Ja, was ist Demenz denn dann? Die Symptome sind die Gleichen. Und das Entsetzen im Erleben auch.
Verstehen:
Anders als Grippe, Masern oder Bauchspeicheldrüsenkrebs ist Demenz KEINE eigenständige Krankheit. Sie beschreibt vielmehr einen Zustand, der durch unterschiedlichste Ursachen entstehen kann. Es gibt also kein einheitliches Krankheitsbild. Cornelia Stolze beschreibt detailliert, dass und warum sich selbst Alzheimer, gern als bekannteste Form der Demenz proklamiert, bis heute mit modernsten Techniken nicht diagnostizieren lässt. Demenzdiagnosen sind daher immer Ausschlussdiagnosen, soll heißen, wenn sich laut Arzt keine Ursache für Verwirrtheit, Vergesslichkeit oder Desorientiertheit finden lässt, dann ist es Alzheimer. Die Ablagerung von Amyloid-Plaques im Gehirn galten lange Zeit als das Merkmal der Alzheimererkrankung.
Untersuchungen an Verstorbenen aber zeigen: diese Ablagerungen finden sich auch in ähnlich großem Ausmaß in Gehirnen von Menschen, die nachweislich geistig fit waren. In der Öffentlichkeit entsteht ein verzerrtes Bild, weil andere belegbare Auslöser für kognitive Störungen in den Hintergrund treten: Schlaganfälle, mehrfache kleine Hirninfarkte, Alkohol-Folgeerkrankungen, Nebenwirkungen von Medikamenten, Hirnschäden durch Operationen, Altershirndruck, Gehirnerschütterungen, Hormonmangel, Autoimmunerkrankungen etc. Skepsis bei der Diagnosestellung ist also angebracht: bei den vermeintlich typischen Demenzsymptomen handelt es sich häufig um eine Verkettung mehrerer Ursachen, die nicht leicht aufzudecken, deren Aufdeckung für die richtige therapeutische Begleitung aber maßgeblich ist!
Handeln:
Fragen Sie und hinterfragen Sie jede vermeintliche Binsenweisheit zum Thema Demenz immer wieder neu. Seien Sie ehrlich zu sich selbst und im Kontakt mit Ihren Angehörigen, was die Einnahme von Tabletten aller Art und das Trinken von Alkohol angeht, wenn es um eine Diagnose geht. Wer hat den Nutzen von einer Demenz-Diagnose? Wer hat einen Nutzen daran, Angehörige in der leidenden Opferrolle zu sehen und zu halten? Auch hier braucht es Ihre Verantwortung für sich selbst und die schonungslose Ehrlichkeit sich selbst gegenüber.
Der Demenz-Markt ist groß, und er boomt. Schauen Sie genau hin und holen Sie sich Informationen von mehreren Beratungsstellen: Pflegestützpunkte, Demenzberatungsstellen, Verbraucherzentralen, Bundesministerium für Gesundheit. So kommen Sie besser durch den Dschungel der verwirrenden Informationen zum Thema Demenz. Sie können erkennen, welche wirtschaftlichen Interessen hinter welcher Aussage stecken. Und Sie bekommen ein besseres Gefühl dafür, welche Informationen für Sie individuell nützlich und wichtig sind.
Mein Wunsch
Wir sind scheinbar so erpicht darauf, für alles Diagnosen, Erklärungen und Etikettierungen zu bekommen. Wir vergessen jedoch dabei uns eine viel wichtigere Frage zu stellen: Wie wollen wir miteinander leben? Wie gehen wir mit Menschen um, die in den für uns scheinbar so wichtigen kognitiven Funktionen ihres Gehirns beeinträchtig sind? Was können wir von Menschen mit einer Demenzsymptomatik lernen? Ich möchte in meinen Rollen als ehemalige Angehörige einer Betroffenen (die Demenz-Symptomatik ergab sich aus mehreren kleinen Hirninfarkten und den Folgen einer verengten Halsschlagader) und als Therapeutin die täglichen Herausforderungen in den Begegnungen mit Menschen mit demenziellen Veränderungen nicht geschmälert sehen. Fragen und hinterfragen Sie. Auch diesen Text mit meiner ganz persönlichen Sicht auf die Dinge. Bleiben Sie wachsam und achtsam mit sich selbst. Denn vor jedes Handeln haben die Götter das Verstehen gesetzt.
Sie haben Fragen und möchten Rückmeldung geben? Schreiben Sie mir. Ich freue mich auf Ihre Zeilen.
Herzlichst, Ihre