Kaum etwas stellt die Welt sowohl von pflegenden Angehörigen als auch von professionell Pflegenden so auf den Kopf wie das sogenannte „herausfordernde Verhalten“ von Menschen mit Demenz. Mit „herausforderndem Verhalten“ ist das Verhalten von Menschen mit Demenz gemeint, das die Umgebung vor „Herausforderungen“ in der Begegnung stellt. Dazu zählen Verhaltensweisen, die häufig einen enormen Einfluss auf die Umgebung haben und von der Umgebung als Belastung erlebt werden wie bspw. anhaltendes lautes Rufen, körperliche Aggressivität, wiederholtes Fragen, rastloses Umherlaufen.
Scham und Unkenntnis
Sätze wie „Mein Vater war früher nie so“ oder „Meine Ehefrau verhält sich aggressiv, das ist mir so peinlich“ sind Ausdruck dieses immensen, hoch- emotional-explosiven Spannungsfeldes. Sind wir mit herausfordernden Verhaltensweisen konfrontiert, sind wir mit unseren eigenen Gefühlen und unserem Verständnis von der Welt, unseren sozialen Maßstäben und Normen konfrontiert. Das ist oft im doppelten Sinn unangenehm. Da kann sich Frust breitmachen, weil wir nicht wissen, wie wir uns verhalten sollen. Oder wir fühlen uns durch Beschuldigungen oder Aggressionen persönlich angegriffen, wir empfinden Scham, weil wir gängige soziale Normen durch das Verhalten von Menschen mit Demenz verletzt sehen.
In unseren vertrauten Kategorien erspüren-verstehen-handeln möchte ich Ihnen wenige, aber hoffentlich hilfreiche Impulse zu diesem brisanten Thema an die Hand geben, die Sie für sich weiterdenken können und sollen.
Erspüren:
Von einfach ist auch hier wieder einmal nicht die Rede. Entscheidend für die Auseinandersetzung mit dem herausfordernden Verhalten ist jedoch auch hier wieder einmal unsere innere Haltung. Die Fähigkeit, meinen Schmerz, meine Trauer, meine Angst, meine Scham hintenanzustellen und das Erleben im Moment aus der Sicht der Person mit Demenz zu sehen.
Ruft mein Vater anhaltend, weil das Hören seiner eigenen Stimme ihm Sicherheit vermittelt? Entspringt die gezeigte Aggression bei der Grundpflege dem Schamgefühl meiner Mutter, weil sie sich unbehaglich fühlt, nackt vor mir in der Dusche zu sitzen? Ist das Rütteln am Tisch ein Versuch meines Mannes, innere Spannungen abzubauen? Wandert meine Frau in meiner Wahrnehmung stundenlang unruhig umher oder wirkt sie dabei entspannt? Ist das laute Rufen meines Freundes eine Reaktion auf Schmerzen, die er nicht benennen kann?
Verstehen:
Er liegt in einem Krankenhausbett. In der Nacht hat man ihn eingeliefert, mit dem Notarzt. Weg aus der vertrauten Umgebung des Pflegeheimes, weg von seinem vertrauten Zimmer, seinem Bett, den vertrauten Düften, den vertrauten Personen. Einen Blasenkatheder hat man ihm gelegt, unangenehm ist das, dieser Druck. Er zieht an den Schläuchen. Aufstehen, zur Toilette gehen, das ist sein Ziel. Doch Halt: da ist das Bettgitter, das seinen Radius begrenzt.
Unruhig macht er sich daran zu schaffen, die Bettdecke ist schwer. Die Tür geht auf, fremde Stimmen sagen harsch, er solle liegen bleiben, er versteht nicht, was man ihm sagt, sehr wohl jedoch wie mit ihm gesprochen wird. Genervt, gereizt, er hat wohl etwas falsch gemacht. Die Reinigungskraft raschelt mit frischen Tüten für den Mülleimer dicht an seinem Ohr, eine Spritzenpumpe gibt ein lautes Alarmsignal, draußen vor dem Fenster startet der Helikopter. Er schwitzt, er hat Angst, er will weg, muss weg. Zurück in seine vertraute Umgebung, die Beine über das Bettgitter und los…
Allein das Einfühlen, also das Verstehen wollen des Verhaltens der Person mit Demenz, der Versuch, in ihren „Schuhen zu gehen“ kann helfen, die Situation zu entspannen und nimmt den Druck, das „störende“ Verhalten sofort unterbinden zu müssen. Damit öffnen sich neue Handlungsspielräume. Fragen Sie sich also immer: Für wen ist was wichtig? Für den Herrn mit Demenz im Krankenhaus ist es wichtig, seine Angst ausdrücken zu können, sein Handeln entspringt dem Wunsch, der Situation zu entkommen, die Angst macht. Wen stört das Verhalten? Das Personal, weil das Verhalten die Abläufe des Krankenhausbetriebes einschränkt. Was ist bedeutsam? Das Vermitteln von Sicherheit für die Person oder der Einsatz der bildlichen Brechstange, damit er sich ungeachtet seiner Erkrankung an die „Spielregeln“ des Krankenhauses hält?
Handeln:
Unabhängig davon, ob eine mögliche Ursache für das Verhalten erkennbar ist, sollte das oberste Ziel also immer sein, die Gefühle der Person mit Demenz zu erfassen. Seminare und Schulungen, die auf spielerische Art und Weise einen Perspektiv-Wechsel aus der Sicht der Personen mit Demenz vermitteln, sind ein wahrer Schatz für den Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen. Das Demenz-Balance-Modell © nach Barbara Klee-Reiter ermöglicht nicht nur das Erleben rund um die Frage, wie kann ein Mensch mit Demenz sich fühlen, sondern bietet gleichzeitig auch das Entwickeln von individuellen Lösungsstrategien, um die Begegnungen mit Menschen mit Demenz in Balance zu bringen. Diese selbst erspürten Lösungsansätze bringen uns zurück ins Handeln. Multiplikatoren für die Seminare gibt es deutschlandweit. Mehr erfahren Sie unter www.perspektive-demenz.de.
Was immer Sie bewegt: Holen Sie sich Unterstützung! Ich wünsche mir mehr aufrichtige Kommunikation zwischen professionell Pflegenden und den Angehörigen. Haben Sie den Mut, Ihre Verzweiflung und Hilflosigkeit im Umgang mit ihren Angehörigen anzusprechen. Haben Sie den Mut, im Team zu sagen, dass Sie gerade nicht mehr weiterwissen. Ich wünsche Ihnen Menschen an Ihrer Seite, die Ihnen mit liebevollem Verständnis begegnen. Und ich wünsche Ihnen Mut, eigene soziale Konventionen über Bord zu werfen.
Mögliche Unterstützungsangebote für Menschen mit Demenz bei herausforderndem Verhalten können sein:
Bewegungsangebote:
Sie helfen Menschen mit Demenz, beweglich zu bleiben und vermindern dadurch die Situationen, die zu Schmerz, Frust und Unruhe führen können. Bewegungsdrang stattgeben statt Bewegung einschränken sollte das Ziel sein. Gehen Sie spazieren oder tanzen sie, schwingen Sie die Arme und ermöglichen Sie Menschen mit Demenz, die auf einen Rollstuhl angewiesen oder bereits bettlägerig sind, neue Reize, indem sie die Position der Hilfsmittel im Raum verändern, Dinge zum Fühlen in die Hand geben etc.
Bedeutsame Beschäftigung:
Versuchen Sie, den Tätigkeiten einen Sinn zu verleihen. Binden Sie die Person mit Demenz in Alltagsaktivitäten ein und – was darin bedeutsam ist – ermöglichen Sie Personen mit Demenz sich zu engagieren: nach dem Erleben des Menschen mit Demenz, NICHT in Bezug auf Ihre Maßstäbe!
Sinneserleben:
Nutzen Sie Musik, Düfte, Filme, Bilder, Berührung, um immer wieder unterschiedliche Sinne anzuregen. So können Sie auf ein gemeinsames positives Erleben des Augenblicks hinzuwirken. Bleiben Sie echt. Die Person mit Demenz wird spüren, wenn Sie alleinig aus der Motivation heraus handeln, vom für Sie unerwünschten Verhalten ablenken zu wollen.
Sorgen Sie als Begleiter gut für sich. Hören Sie Musik, nehmen Sie sich Auszeiten, gehen Sie spazieren, schwimmen, ins Kino, ins Café. Und hinterfragen Sie hin und wieder, ob es nicht wertvoll ist, sozial erwünschte Normen zugunsten des Gefühls des gelebten Lebens über Bord zu werfen.
Sie haben Fragen und/oder möchten Rückmeldung geben? Schreiben Sie mir. Ich freue mich auf Ihre Zeilen. Sie möchten mehr erfahren? Das kommen Sie bspw. in meine Seminare. Oder besuchen Sie mich auf meiner Website.
Herzlichst, Ihre
Anmerkung der Redaktion: Absolut lesenswert ist auch der Blog http://die-sind-doch-alle-verrueckt.de/.