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Haben Sie es auch gelesen oder im Radio gehört? Es ging groß durch die Presse: bei hochsommerlichen Temperaturen „büxten“ zwei Senioren aus einer Pflegeeinrichtung in Dithmarschen aus, um das legendäre Metal-Event in Wacken live zu erleben. Gegen drei Uhr morgens wurden sie auf dem Festgelände aufgegabelt und ließen sich laut Polizeibericht „nur widerwillig“ zurück ins Seniorenheim bringen, eine Polizeistreife begleitete das Taxi.

Selbstbestimmung ist ein zentrales Recht

In den sozialen Medien schlagen die Wellen dazu hoch. Es werden viele Stimmen laut, die sich wünschen, man möge den Senioren ob mit Demenz oder ohne die Teilnahme an Festivals wie Wacken möglich machen. Das Leben stattfinden lassen – und zwar in jedem Alter und unabhängig von einer Erkrankung oder institutionellen Regelungen. Situationen geschehen lassen. Den Tag – für uns so selbstverständlich – selbstbestimmt gestalten können.

Selbstbestimmung meint, nach freiem Willen über sein Leben entscheiden zu können. Sie gilt als zentrales Recht aller mündigen Menschen. Doch was ist mit den Unmündigen? Selbstbestimmung meint das Gegenteil von Manipulation, Fremdbestimmung bzw. Unterdrückung. Wie kann es uns gelingen, Menschen mit Demenz nicht zu manipulieren? Selbstbestimmung führt automatisch zur Selbstverantwortung heißt es. Inwieweit können Menschen mit einer Demenzerkrankung noch für sich Verantwortung übernehmen? Was können wir tun, um Menschen mit Demenz Selbstbestimmung zu ermöglichen?

Das Thema hat viele und sicherlich vor allem viele rechtliche Aspekte, die ich nicht bedienen kann und will. Ich möchte Sie über die vertrauten Bausteine unserer Demenzfibel „Erspüren – Verstehen – Handeln“ auch in diesem Kapitel zum Nachdenken und zum Neudenken einladen.

Die Magie eines Menschen erlischt nicht, nur weil er an Demenz erkrankt ist. Bildquelle: © Anna Sullivan / Unsplash.com
Die Magie eines Menschen erlischt nicht, nur weil er an Demenz erkrankt ist. Bildquelle: © Anna Sullivan / Unsplash.com

Erspüren:

Menschen mit Demenz sind auch bei weit fortgeschrittener Erkrankung in Sekundenbruchteilen in der Lage zu erspüren, ob sie sich in einer Situation wohl oder unwohl fühlen. Diese Fähigkeit unseres limbischen Systems, dem ältesten Teil unseres Gehirns, bleibt auch bei allen hirnorganischen Abbauprozessen uneingeschränkt erhalten. Nach diesem situativen Gefühl und den Atmosphären handeln sie. Im Klartext: Alles, was Menschen mit Demenz tun oder sagen, hat Sinn, seinen Grund und seine Wurzel. Es mag sein, dass sich uns dieser Sinn nicht auf den ersten Blick erschließt oder dass er nicht in unser aufgestelltes alltägliches Regelwerk passt. Es ist an uns, herauszufinden, was dahinter stehen kann und für eine Atmosphäre zu sorgen, die Selbsterleben und Selbstbestimmung im Kleinen ermöglicht.

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Verstehen:

Das, was im „wahren” Leben als normal gilt, wird im Kontext der Erkrankung Demenz schnell als pathologisch eingestuft oder nur noch im Zusammenhang mit der Erkrankung gewertet. Ich möchte spazieren gehen? Ich habe eine Weg- bzw. Hinlauftendenz (ein Wort ist so blöd wie das andere).

Folge: ich werde in meinem Wunsch eingeschränkt, darf vielleicht spazieren gehen, aber nicht allein. Ich wähle meine Kleidung selbst aus. Was sollen denn die Nachbarn denken, wenn ich das Abendkleid über der Hose trage? Dieses Shirt? Ist doch heute viel zu kalt. Ich werde möglicherweise gezwungen, etwas anderes anzuziehen. Dass ich friere und dieses vertraute Gefühl erleben und aushalten darf – um diese Form der Selbstbestimmung werde ich gebracht. Ich möchte aufräumen und Dinge erledigen. Mir wird gesagt, dass doch alles ordentlich ist. Der Schrank wird abgesperrt. Ich werde gemaßregelt. Ich habe heute kein Lust zu duschen und möchte den ganzen Samstag schlumpfig im Schlafanzug verbringen? Ohne Demenz kein Problem. Mit Demenz schon. Dann kommt man mir mit Hygieneanforderungen.

Handeln:

Ich bin ganz bei Ihnen. Von einfach ist hier nicht die Rede. Aber auch das ist das Leben. Es stellt uns immer wieder vor Herausforderungen – ob mit Demenz oder ohne. Versuchen Sie einmal inne zu halten: wie würde ich mich fühlen? Was an der aktuellen Atmosphäre kann der Auslöser für das Verhalten sein? Was daran ist völlig „normal“? Wenn ich das nächste Mal beim Kartoffeln schälen mit dem Küchenmesser zur Musik aus dem Radio im Takt auf dem Tisch trommle, weil es schlichtweg einen Heidenspaß bringt – dann lassen Sie mir das Messer, sagen Sie einmal nicht „Sie könnten sich schneiden“, sondern gehen Sie vorsorglich Pflaster holen.

Zum Leben gehört, das ich mich verletzen kann, aber auch, dass ich mich verletzen darf. Mehr weh als ein Schnitt in den Finger tut die Maßregelung und das Gefühl, nicht richtig zu sein. Schmerzhafter ist das Erleben, dass mir der kleinste Moment der Selbstbestimmung genommen wird. Und schmerzhafter ist, dass unsere ständige Angst unseren gemeinsamen Spaß ausbremst. Tatkräftige Unterstützung in Form von kreativen Ideen zur Situationsgestaltung von solchen Momenten in der Begegnung mit Menschen mit Demenz bietet der Verein „Wohlbedacht e.V.“ www.wohlbedacht.de. 

Selbstbestimmung endet nicht, nur weil man an Demenz erkrankt ist. Das Umfeld benötigt jedoch einen sicheren Umgang damit. Bildquelle: © Aris Sfakianakis / Unsplash.com
Selbstbestimmung endet nicht, nur weil man an Demenz erkrankt ist. Das Umfeld benötigt jedoch einen sicheren Umgang damit. Bildquelle: © Aris Sfakianakis / Unsplash.com

Demenzfreundlichkeit wird möglich durch Wissen

Der Psychologe und Psychotherapeut Dr. Michael Wunder ist Mitglied des Deutschen Ethikrates und formuliert es so: „Selbst an fortgeschrittener Demenz erkrankte Menschen verfügen über Teilautonomie und können bei entsprechender Kommunikations- und Umgebungsgestaltung ihr Leben in vielerlei Hinsicht gestalten und Verantwortung übernehmen. Demenzfreundlichkeit wird möglich durch Wissen, das Angst abbaut und durch Kontakt, der Normalität und Alltäglichkeit schafft“.

Dr. Michael Wunder und seine Ansichten rund um das Thema Ethik und Selbstbestimmung können Sie live erleben und zwar am Weltalzheimertag in der Talkrunde „Zeit, dass sich was dreht“ in der Kulturküche Alsterdorf in Hamburg. Mehr dazu auch unter www.kooperation-nord-demenz.de

„You gotta fight for your right to party“ sangen einst die Beastie Boys. Selbstbestimmung für Menschen mit Demenz fängt bei unserer (Grund)Haltung an. Hören wir auf zu Pathologisieren. Schauen wir genau(er) hin. Hinterfragen wir. Werden wir ein „Selbstbestimmungs-Möglichmacher“.

Sie haben Fragen und möchten Rückmeldung geben? Schreiben Sie mir. Ich freue mich auf Ihre Zeilen.

Herzlichst, Ihre

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