„Mit solchem Andrang haben wir nicht gerechnet.“ So entschuldigt sich Prof. Ulrich Lehner für den verspäteten Beginn des Jahreshauptversammlung 2019 der Deutschen Telekom AG: „Selbst die Empore ist gut gefüllt“, staunt der Aufsichtsratsvorsitzende. Lehner wird demnächst 73. Er wirkt souverän in der „59plus-Klasse“; so, wie die allermeisten Damen und Herren Aktionäre, die Lehner an diesem Donnerstagmorgen begrüßt – im Saal New York und überall an Info- und Kaffee-Ständen im weitläufigen UN-Conference-Center in Bonn sowie im Worldwide Web und im Foyer der nahen Telekom-Zentrale.
Normalerweise rufen die Vereinten Nationen Vertreter aus aller Welt auf den UN-Campus im früheren Bonner Regierungsviertel; um „noch mal eben die Welt zu retten“, wie Liedermacher Clueso es seit Jahren besingt; schon bevor die Jugend Fridays for Future ausrief. Ganz so hoch hingen die Sterne nicht an diesem wichtigsten Tag im „Telekom-Jahr 2019“. Grundsätzlich ist die Hauptversammlung das höchste Gremium einer jeden Aktiengesellschaft. Die Eigentümer, die Aktionäre, werden von den Chefs eingeladen. Sie werden hofiert und für ihr Kommen belohnt – bei der Telekom mit Dividende und mit Essensmarken, einer Art Natural-Dividende.
T-Chef ohne T-Shirt
Insgesamt hat die Telekom fast 5 Milliarden Stück Aktien bei Aktionären in aller Welt liegen. Knapp 4.000 Aktionäre und Aktionärsvertreter sind nun zur HV nach Bonn gereist. Manche haben nur eine einzige T-Aktie und eine Stimme, z.B. aus der Pfalz mitgebracht. Andere vertreten Tausende Fondsanleger und Millionen Stück Aktien von Bankkunden aus aller Welt. Zwei Drittel der T-Aktien liegen bei ausländischen Sparern und Anlegern. Die Deutsche Telekom ist längst nicht mehr „nur“ deutsch. Sie ist global. Und das sei auch gut so, sagen Zahlen der Bilanz und Experten des Geldes.
Fast 70 Prozent aller 5 Milliarden T-Aktien sind bei der Hauptversammlung 2019 in Bonn dabei. Beim aktuellen Aktienkurs sind das rund 50 Milliarden Euro konzentrierte Sparerpower und Gewicht bei den anstehenden Abstimmungen. Telekom-Chef Timotheus Höttges zeigt denn auch vollen Einsatz. Eine Stunde lang wandert er auf der Bühne auf und ab. Unmerklich nimmt er die Stichworte vom Teleprompter auf und führt die T-Eigentümer durch Zahlen und Perspektiven.
Es gibt Szenen-Applaus. Unweigerlich sieht der Besucher den T-Chef in einen Vergleich gezogen zu Kultchefs von Apple oder Facebook mit deren eigenwilligen T-Shirts und Pullovern. „Unser Tim Höttges sieht besser aus – mit dem modernen blauen Anzug und der lila Krawatte.“ Da sind sich die Herrschaften im Saal einig. In einer hinteren Reihe hat ein Herr das Opernglas rausgeholt. Nur beim Aktienverlauf; da hat „der Tim“ die Dinge schön gerechnet.
Ganz so toll, wie er den Verlauf der T-Aktie darstellt, war der Kurs 2018 nicht: 1,4 Prozent Minus. Immerhin: Im allgemein schlechten Aktienjahr 2018 reichte das für Platz sieben in der Abschlusstabelle der „Bundesliga Aktien“ der 30 deutschen Spitzenaktien. Kein Wort, kein bisschen Demut zu jenen 40 Euro, die vor fast genau 20 Jahren bei der zweiten Ausgabe von T-Aktien verlangt worden waren. Ein Jahr später wurden Sparer sogar überredet, 66 Euro für exakt jene T-Aktien zu zahlen, die seither nur noch selten 16 Euro gebracht hätte – beim Verkauf.
Bei 73 Aktiengesellschaften bin ich dabei
Der Bäckermeister aus Brühl hat nicht verkauft. Er hat die ärgerliche Kurs-Vergangenheit abgehakt. Entspannt sitzt der Meister der Brötchen im Souterrain und gibt an, er wisse gar nicht mehr genau, seit wann er bei der Telekom dabei ist. Wie in all den Jahren zuvor ist er heute wieder dabei bei der Hauptversammlung. Wahrscheinlich ist das kein Zufall: Die Telekom wirbt derzeit aufwendig mit dem Magenta-Slogan „#DABEI“.
Der Bäcker aus Brühl hat die 73 Jahre von Aufsichtsrat Lehner längst hinter sich. Seine Frau sitzt neben ihm – schlank wie eh und je. Die Wertmarken für Frühstück und Mittag haben die beiden schon aufgebraucht. Kaffee ist frei. Aus voll kompostierbaren Pappbechern.
Die „Bäckers aus Brühl“ freuen sich über 5 Cent mehr Dividende. Am 02. April ist Zahltag: 70 Cent je Aktie „für das Rekordjahr 2018“, so lobt Höttges seine Telekomer. Nächstes Jahr wird es mindestens wieder 50 Cent geben. „Um so viel bei der Bank zu bekommen, müssen Sie lange sparen“, weiß Alt-Aktionär „Bäcker“. Die 50 Cent garantieren T-Chef Tim und seine mehr als 200.000 Leute für die nächsten Jahre als Untergrenze. Dass es jedoch ausgerechnet zum 25-jährigen Bestehen der Telekom als Aktiengesellschaft im nächsten Jahr weniger Dividende als die jüngsten 70 Cent geben wird, das halten Kenner für höchst unwahrscheinlich. Höttges: „Die Dividende soll bis 2021 steigen.“
Kaffee und Kuchen in New York am Rhein
Im Hintergrund tönt die Szene aus dem Saal New York über die Bildschirme im Untergeschoss. Manche Aktionäre empfinden ihr Rederecht offenbar mehr als Aufruf zu einer Art „Aktien-Comedy“ denn als Chance für ein ernsthaftes Frage und Antwort-Stück.
Die T-Chefs auf der Bühne und ihre Aufsichtsräte brauchen viel Geduld: „Wir wollen in vier bis sechs Stunden durch sein“, hatte Multi-Aufsichtsrat Lehner zu Beginn vorgegeben. Schräg hinter Lehner sitzt Neuaufsichtsrat Harald Krüger, im Hauptberuf Chef des BMW-Konzerns: Charmant tauscht er sich mit der Ratsnachbarin Petra Steffi Kreusel aus. Sie ist eine der obersten Kommunikatorinnen im Telekom-Konzern.
„T-Kreusel“ hat „BMW-Krüger“ etwas voraus: Sie ist schon seit 2013 im T-Rat dabei. Als Vertreterin der Mitarbeiter führt sie dort Aufsicht über Tim Höttges. Im normalen Leben ist „der Tim“ ihr oberster Chef. Eben auf der Bühne war Höttges nur einmal ins Stocken geraten: In USA bei der dortigen Erfolgstochter T-Mobil, so Höttges, ginge es jetzt darum, Bäcker, Metzger und Wirte als Kunden zu gewinnen. „BMW“ heiße dort die Devise. So schmunzelte Höttges. Und machte schnell weiter.
BMW heißt die Devise für die T-Mobil
Bei den „Bäckers aus Brühl“ sitzt eine selbst ernannte Oma aus Mannheim mit am Tisch. Der dazugehörige Opa wird gleich mit vier Stücken Kuchen vom Buffet zurückkommen: „Die sind für morgen.“ Die Kuchenkartons lassen sich leicht zusammenpacken. Die Oma freut sich schon auf das Aktionärstreffen der Südzucker AG im Rosengarten von Mannheim: „Da gibt’s reichlich Süßes.“
„Mir ist das zu weit“, beteuert „Bäcker-Brühl“. Er habe Aktien von 73 AG’s, erzählt er nicht ohne Stolz: „Alle hier an Rhein und Ruhr. Wir fahren da meistens mit der Bahn hin; vor allem, wenn die Anfahrt in der Eintrittskarte für die Hauptversammlung mit drin ist. Das sind immer schöne Ausflüge.“
An den anderen Tischen auf der Versorgungsebene des UN-Campus überwiegen ebenfalls die weißen und grauen Schöpfe. Hauptversammlungs-Profis von Investmentfonds und Aktionärsvereinigungen kennen die Szene: „Eine AG ruft zur HV und keiner geht hin, das wäre peinlich“, weiß man in Fachkreisen. Bei der Telekom kann man auch Briefwahl machen; freilich unter Verzicht auf Natural-Dividenden: Croissants, Würstel, Buletten, Kuchen, so lange der Vorrat reicht. Und natürlich geht das nicht nur mit Kaffee sondern auch mit Tee.
Vier bis sechs Stunden sind lange vorbei, als Prof. Lehner die Hauptversammlung 2019 schließt mit herzlichem Dank an die Getreuen, die bis zum Ende durchgehalten haben. Die meisten Aktionäre sind längst auf dem Heimweg: „HV positiv“, so ist die Stimmung in der „59plus-Klasse“. Draußen am Rhein hat man nichts verpasst an diesem diesigen Donnerstag. Bei der nächsten HV sehen wir uns wieder.