Der Jurist und Sachbuchautor Ernst Reuß vermittelt in seinem Buch „Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern“ ein lebendiges Bild der Nachkriegszeit. Unsere Redakteurin Anja Karrasch sprach mit dem Autor über juristisches Chaos und den Überlebenswillen der Menschen vor 70 Jahren in Berlin.
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches im Frühjahr 1945 bestimmten Hunger, Not und Gewalt im zerbombten Berlin den Alltag. Um dies schnell zu ändern, organisierte die siegreiche Rote Armee in Berlin die Verwaltung, Polizei und Gerichte neu.
Ernst Reuß sichtete Tausende von Gerichts-Akten, die jahrzehntelang auf dem Dachboden des Amtsgerichts Berlin-Mitte lagerten und diese Zeit dokumentieren.
Herr Reuß, nach der Kapitulation der deutschen Streitmächte am frühen Morgen des 7. Mai 1945 herrschten in Berlin anarchistische Zustände. Welche Szenen spielten sich auf den Straßen Berlins ab?
Offiziell war der Krieg am 7. Mai mit der Unterschreibung der Kapitulationsurkunde in Reims zu Ende. An den Stadträndern von Berlin wurde schon seit Ende April nicht mehr gekämpft. Am 30. April hatte sich Hitler umgebracht und am 2. Mai haben die deutschen Truppen in Berlin endgültig kapituliert. Dann sind die Leute aus den Kellern raus. Es herrschte völliges Chaos, die Häuser waren zerbombt, es gab kaum etwas zu Essen und zu Trinken. Es wurde viel geklaut, geplündert, auch gemordet in den ersten Wochen. Fanatische Nazis haben noch angebliche „Verräter“ erschossen.
Es gab direkt nach Kriegsende auch Racheexzesse und viele Vergewaltigungen durch Rotarmisten. Allerdings sollte man angesichts dessen was zuvor durch Wehrmacht und SS im Osten angerichtet wurde, den notwendigen Kontext diesbezüglich herstellen.
Insgesamt muss man sagen, lief es erstaunlich geordnet ab. Es gelang sehr schnell, die Ordnung in der Stadt einigermaßen wiederherzustellen.
Wer war in den ersten Wochen dafür verantwortlich, die Gewalt und das Chaos in den Griff bekommen?
Die russischen Truppen hatten Berlin als erste eingenommen, sodass der russische Stadtkommandant Bersarin unverzüglich damit begann, die Stadt im russischen Sinne zu reorganisieren und die Verwaltung und das Gerichtswesens aufzubauen. Schon am 8. Mai wurde im Bezirksamt Charlottenburg eine Eheschließung amtlich registriert und in kurzer Zeit wurden neue Gerichte eingesetzt.
Die Rote Armee hat zu Beginn viel Aufbauarbeit geleistet, erst im Juli zogen die Amerikaner und Engländer in Berlin ein. Einen Monat später kamen die Franzosen in die Stadt und Berlin wurde in vier Sektoren aufgeteilt. Die ersten Gerichts-Akten gab es schon im Juni 1945, wo die Alltagskriminalität verhandelt wurde, wie Diebstahl, Hehlerei, Obdachlosigkeit, Kuppelei oder Prostitution. Bis 1949 gab es in Berlin eine einheitliche Rechtsprechung, die auf den von der sowjetischen Besatzungsmacht geschaffenen Verwaltungsstrukturen basierte.
Mit welchen Problemen hatten die Verantwortlichen dabei zu kämpfen?
Es war schwierig, überhaupt genügend Richter und Mitarbeiter in den Gerichten zu finden, die nicht der NSDAP angehört hatten, was während der Nazi-Diktatur praktisch Einstellungsvoraussetzung gewesen war. Vor dem Krieg gab es am größten Amtsgericht in Berlin-Mitte 2.700 Beschäftigte. Nach dem Ende des Krieges waren nur noch 48 übrig geblieben, die die Arbeit nicht bewältigen konnten.
Teilweise wurden pensionierte Fachleute wieder eingesetzt und Studenten oder auch jüdische Juristen verpflichtet. Es gab Richter im Soforteinsatz, das waren Laien ohne juristische Ausbildung, die an den Gerichten gearbeitet haben. Nach der Trennung der Justiz wurden im Ostsektor Berlins vor allem Arbeiter juristisch ausgebildet, die sogenannten Volksrichter. Im Osten wurde daraufhin die Rechtsprechung zusehends ideologisiert. In den Westsektoren kamen ab 1949 die ehemaligen Nazi-Richter nach und nach wieder zurück.
Was ist eine ideologische Rechtsprechung?
Es gab viele Laien, vor allem Arbeiter und Gewerkschafter, die geschult wurden im Sinne der neuen Machthaber. Der Titel meines Buches „Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern“ bezieht sich auf harte Urteile bei Fahrraddiebstählen. Delinquenten wurden für bis zu zwei Jahre ins Gefängnis gesperrt. Da Millionäre nun mal kein Fahrrad fahren, war es umso verwerflicher, wenn man der arbeitenden Bevölkerung das Fahrrad wegnahm. Diese Urteile sind auf die vorangegangenen ideologischen Schulungen zurückzuführen.
Die Volksrichter haben beispielsweise auf 1. Maikundgebungen ihre Sprechchöre geleistet, um dem Staat zu huldigen, was es in der Form im Westen nicht gab, da hier die Richter unabhängig sein sollten.
Gab es weitere Delikte, die besonders hart bestraft wurden?
Buntmetalldiebstahl war ein schweres Vergehen, weil es hieß, dass davon im Westen Kriegsschiffe gebaut wurden. Dieser Rohstoff war rar, deshalb konnte man ihn im Westen teuer verkaufen. Es galt, dies durch eine harte Rechtsprechung zu verhindern.
Sie haben Tausende von Gerichtsakten für Ihr Buch ausgewertet. Konnten Sie bei der Recherche auch mit Augenzeugen sprechen?
70 Jahre nach Kriegsende sind viele Zeitzeugen ja bereits verstorben. Persönliche Interviews habe ich für das Buch nicht geführt, aber natürlich viele Zeitzeugen bei Vorträgen gehört beziehungsweise ihre Aufzeichnungen gelesen.
Das Problem mit der Oral History (Anm. d. Redaktion: eine Methode der Geschichtswissenschaft, die auf dem Sprechenlassen von Zeitzeugen basiert) ist außerdem, dass sich nach so vielen Jahre einiges vermischt, die Erinnerung verblasst oder ideologisch verfärbt ist. Deshalb habe ich auf die alten Akten zurückgegriffen. Ich wohne direkt am Potsdamer Platz, wo diese spannende Zeit immer noch gegenwärtig ist. An der Wilhelmstraße befand sich die Reichskanzlei, daneben hat sich Hitler umgebracht. Und auf der Moltkebrücke gab es die letzte Schießerei vor der Kapitulation.
Was hat Sie beim Lesen der Akten besonders beeindruckt?
Die Not der Menschen hat mich sehr beeindruckt. In den ersten Tagen beispielsweise schlachteten die Menschen Pferde direkt auf der Straße, die tot dort herumlagen. Frauen wurden wegen Prostitution bestraft, weil sie in ihrer Not Soldaten zu sich eingeladen hatten, um als Gegenleistung für ihre Dienste etwas zu Essen zu bekommen. Alte Frauen, die Zimmer an diese Frauen vermieteten, mussten sich wegen Kuppelei verantworten. Man glaubt es kaum, aber dieser Straftatbestand wurde in der DDR erst 1968 und in der BRD 1973 abgeschafft. Dass es die Menschen in dieser Situation geschafft haben, ihren Alltag auch mit erfreulichen Dingen zu füllen, ist bewundernswert.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Reuß.