Matthias Thöns ist Palliativarzt an der Basis und betreut mit seinem Team Sterbende zu Hause. In seinem Buch „Patient ohne Verfügung. Das Geschäft mit dem Lebensende“ schildert er anhand vieler Praxisbeispiele und umfangreicher Fakten die Mechanismen eines Gesundheitssystems, das menschliches Leben buchstäblich um jeden Preis verlängert und dabei viel Leid in Kauf nimmt. Der Autor plädiert dafür, den Blick wieder auf die Bedürfnisse des kranken Menschen und das medizinisch Sinnvolle zu richten.
Herr Thöns, warum tut sich unser Gesundheitssystem so schwer damit, todkranke Menschen barmherzig und würdig sterben zu lassen?
Da gibt es in meinen Augen drei Hauptgründe: Geld, Geld und nochmal Geld. Gerade das Klinikabrechnungssystem belohnt intensive Medizin bei schlimmen Diagnosen am meisten. Und Sterbenskranke haben die schlimmsten Diagnosen und wehren sich nicht allzu sehr gegen jegliches Therapieangebot.
Sie schildern in Ihrem Buch, wie Menschen trotz Patientenverfügung gegen ihren Willen künstlich am Leben gehalten wurden. Wie kann man sich davor schützen?
Natürlich schützt eine gute Patientenverfügung in guten Kliniken zuverlässig vor ungewünschter Therapie. Ebenso wichtig sind eine Vorsorgevollmacht und die sorgfältige Auswahl des Bevollmächtigten. Sie oder er muss nämlich den Willen dann recht stringent durchsetzen und sich hier und da auch gegen etwas zu forsch Maximaltherapie fordernde Ärzte zur Wehr setzen können. Da wird dann teils mit Emotionen gehandelt: „Stimmen Sie nicht zu, verhungert, verdurstet, erstickt oder verreckt der Vater jämmerlich“. Das ist natürlich zumeist unwahr und schlicht und einfach extrem schlechte Medizin.
Schlimmer ist eigentlich nur, dass so etwas vom Gesetz her verboten ist, sogar strafbar sein kann. Ein mir häufig zugetragener Trick ist auch, die Erfolgsaussichten einer Maximaltherapie etwas besser darzustellen, als sie sind („Ihre Großmutter wird wieder tanzen können“) und die Risiken zu verschweigen. Denn kaum jemand weiß, dass mit mancher Maßnahme einzig die Wahrscheinlichkeit auf ein Restleben in Schwerstbehinderung gesteigert wird. Auch die Erfolge der Langzeitintensivtherapie werden oft beschönigt. Von Menschen, die langzeitbeatmet wurden, finden weniger als fünf Prozent zurück in ihr altes Leben.
Bitte sehen Sie mir nach, dass ich das hier so negativ darstelle, ich bekomme einfach aktuell immens viele schreckliche Zuschriften. Aber natürlich weiß ich, dass es auch viele gut handelnde Ärzte gibt, bei denen man überhaupt keine Sorgen haben muss. Mittlerweile zweifele ich aber daran, ob das noch die Mehrheit ist.
Was macht die Palliativmedizin anders und besser im Umgang mit kranken Menschen?
Palliativmedizin ist ein Fach, das endlich wieder auf den ganzen Menschen schaut. Nicht „Das Herz in Zimmer 5“ oder „Der Blasenkrebs in 3“, sondern der Mensch, seine ganze Persönlichkeit und sein Befinden stehen im Zentrum der Sorge. Das haben wir mit Hausärzten gemein, die ihren Job gut machen. Und diese Sorge um das gesamte Wohlbefinden, die Behandlung von Schmerz und anderen Quälgeistern, die Verbesserung der Familiensituation, die Optimierung der Häuslichkeit, das alles führt wissenschaftlich belegt nicht nur zu einer besseren Lebensqualität, weniger Depression und weniger aggressive Therapie, sondern insbesondere auch zu einem längeren Leben. Dies ist vielfach in Studien belegt und so überzeugend, dass alle amerikanischen Krebsmediziner 2012 eine Eildepesche bekamen, dass man Krebsbetroffenen frühzeitig Palliativmedizin anbieten soll. Kurze Zeit später galt das weltweit.
Aber diese Medizin wird kaum vergütet, weniger als 0,5 Prozent der Gesamtausgaben gehen dahin, dafür wird 100 Mal mehr Geld für Lebensverlängerung bei Sterbenskranken ausgegeben. Dieser Fehlanreiz lässt sich gut belegen. Die Münchener Uniklinik hat die Daten der an Krebs verstorbenen eines ganzen Jahres veröffentlicht. Übertherapie, also Behandlungen, die den Patienten nichts nutzten, bekamen 60 Prozent, Palliativversorgung von wenigstens drei Wochen jedoch weniger als 2 Prozent. Es müssten deutlich über 90 Prozent sein – aber Palliativversorgung rechnet sich eben nicht.
Laut einer Bertelsmann Studie stirbt jeder zweite Deutsche im Krankenhaus. Die meisten Menschen wünschen sich, zu Hause sterben, wenn der Zeitpunkt für sie gekommen ist. Was müsste passieren, damit dieser Wunsch tatsächlich erfüllt werden kann?
Es braucht ein flächendeckendes Netz von Strukturen der Palliativversorgung und eine Aufwertung aufsuchender hausärztlicher Tätigkeiten. Menschen, die um eine gute Versorgung zuhause wissen, bleiben auch dort und sind am besten gegen Übertherapie geschützt.
Was und wen möchten Sie mit Ihrem Buch erreichen?
Wir sind alle froh, dass ein Rettungswagen kommt, wenn wir umkippen, dass wir intensiv behandelt werden und wieder gesund werden und jedermann diese Leistung bekommt. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass mein einjähriger Sohn Noah, wenn er einmal später eine solche Leistung braucht, nur dann bekommt, wenn er mächtig viel Geld verdient – und das finde ich beschämend. Wir geben heute jeden dritten Euro für Übertherapie aus, die Sozialkassen werden von großen Playern, von Klinikkonzernen und der Pharmaindustrie geplündert und für vernünftige Versorgung fehlt es. Später müssen wir über Leistungsbeschneidungen diskutieren: „Bist du 70, gibt’s keine neue Hüfte mehr – Kasse leer“. Erreichen möchte ich die Basis, die Menschen und damit die Politik. Denn die da oben haben kein Interesse an dem System etwas zu ändern. Zuschauen, wie der Karren an die Wand fährt – das ist nicht mein Stil.
Vielen Dank für das Interview.
Das Buch von Dr. med. Matthias Thöns „Patient ohne Verfügung. Das Geschäft mit dem Lebensende“, erschienen im Piper Verlag, können Sie für 22 Euro versandkostenfrei auch online (https://www.piper.de/buecher/patient-ohne-verfuegung-isbn-978-3-492-05776-9) bestellen.
Matthias Thöns hat mit seinem Titel eine Aussage gewählt, die leider häufig auch auf Fälle zutrifft in denen wohl eine (oft sogar rechtswirksame) Patientenverfügung vorliegt. Viele Menschen übersehen, dass Übertherapie bei unheilbaren Krankheiten aber auch im Alter zu einem weitaus größeren Teil stattfindet, da der Patient selbst seinen Willen kundtun kann. In diesen Fällen ist auch die beste Patientenverfügung nicht wirksam, denn der Patient selbst –
und nur er – kann und muss die (Über)Therapie ablehnen oder ihr zustimmen. Deshalb ist bei Patientenverfügungen auf drei ganz wesentliche Dinge zu achten: 1. Die Patientenverfügung jährlich überdenken und erneuern, wie auch vom BMJV.de empfohlen(eventuell auch erweitern), 2. mit den (vorsorgebevollmächtigten) Angehörigen darüber sprechen und 3. sich fragen: bin ich selbst auch bereit zu tun bzw. zu unterlassen, was ich in meiner Patientenverfügung formuliert habe? “Hilfestellung” bieten der Patientenratgeber “Pflegefall? Nein, danke! Mit der Patientenverfügung selbst entscheiden” und der Blogbeitrag http://www.aelterwerden.eu/patientenverfuegung-erneuern/
Lieber Herr Dr. Margula,
vielen Dank für Ihren Kommentar. In der Tat ist der eigene Umgang und die eigene Verantwortung ein wesentlicher Aspekt, um eine Übertherapie zu vermeiden. Uns, und wir denken auch Herrn Thöns, geht es vor allem um die dafür notwendige Aufklärung. Vielen Menschen ist nicht bewusst, warum eine Patientenverfügung aus dem Internet allein nicht reicht, auch hierzu haben wir bereits einen Artikel verfasst, übernehmen aber an dieser Stelle sehr gern auch Ihren Link zum Blogbeitrag. Herzliche Grüße von der Redaktion
Vielen Dank von allen, denen der Blogbeitrag geholfen hat, besser zu verstehen worum es bei der Patientenverfügung geht.
Ein wichtiges Thema, dass leider noch zu oft ausgegrenzt wird. Der Artikel von Herrn Thöns gibt Anlass, sich mit diesem Thema zu beschäftigen bevor der “Ernstfall” eintritt. Sehr interessant auch der Hinweis von Dr. Margula.
Liebe Frau Kördel,
es freut uns das wir Sie mit dem Artikel positiv auf das Thema “Sterben” aufmerksam machen konnten. Es wird zeitnah noch weitere Informationen zu dem Thema bei 59plus geben. Herzlcihe Grüße von der Redaktion