Am Universitätsklinikum Saarland gibt es seit Oktober 2016 die europaweit einzige altersübergreifende Station für Palliativmedizin. Gemeinsam mit einem multiprofessionellen Team versorgt und begleitet der Leiter Prof. Dr. Sven Gottschling Menschen jeden Alters auf ihrem letzten Lebensweg. In seinem Buch „Leben bis zuletzt. Was wir für ein gutes Sterben tun können“ räumt der 46-Jährige mit Mythen rund um das Sterben auf und gibt konkrete Ratschläge für ein angst- und schmerzfreies Lebensende.
Herr Gottschling, Ihr Buch will Mut machen und eine neue öffentliche Debatte anstoßen über den Umgang mit dem Tod in unserer Gesellschaft. Was läuft Ihrer Meinung nach schief?
Ich glaube, prinzipiell läuft schief, dass wir in unserer Gesellschaft den Tod in eine Ecke gedrängt haben. Wir versuchen ihn wegzuschieben, auch wegzugucken und schieben damit auch die Menschen weg, die in Bälde vom Versterben bedroht sind. Ich möchte das Thema gerne in die gesellschaftliche Mitte rücken und auch die Fürsorge für diese Menschen ganz anders hinbekommen. Und die Leute darauf hinweisen, dass sie aus dieser Nummer nicht rauskommen. Auf unserem Planeten sind schon 200 Milliarden Menschen gestorben und irgendwann trifft es sie auch und auch sie freuen sich dann, wenn nicht wegeguckt wird, sie die bestmögliche medizinische Versorgung bekommen und ihre Angehörigen aufgefangen werden. Das ist mir ein Herzensanliegen. Mein Ansatz mit dem Buch ist es, Angst zu nehmen und aufzuzeigen, was geht.
Woran liegt es, dass viele Ärzte überfordert sind, mit Patienten und Angehörigen über den nahenden Tod zu sprechen?
Erst 2014 wurde Palliativmedizin als Pflichtlehrfach für Medizinstudenten implementiert, d.h. alle, die momentan in der freien Wildbahn rumrennen, haben im Studium in diesem Bereich keine Ausbildung erfahren. Das zeigt auch, warum so viele kommunikationsschwache Ärzte am Start sind. Hinzu kommt, dass die meisten sich nicht mit der eigenen Endlichkeit beschäftigt haben. Um mit Sterbenskranken umzugehen, muss ich eine eigene Position auch zu meiner Endlichkeit haben.
Wenn ich mich in einem Themengebiet unwohl fühle, dann spürt das auch mein Gegenüber. Dann ist der Impuls groß, aus so einer unangenehmen Gesprächssituation wieder rauszugehen. Ärzte sind super darin, sich hinter Fachausdrücken zu verschanzen und mit möglichst unverständlicher Fachsprache Patienten so erfolgreich abzuschrecken, dass so ein Gespräch möglichst flott beendet ist.
Warum hat es so lange gedauert, Palliativmedizin als Lehrfach in das Medizinstudium aufzunehmen?
Wir Ärzte sind alle auf Retten und Heilen gedrillt. Es gibt immer noch viele Kollegen, die sagen „Dem Patienten kann ich nicht mehr helfen“. Dann sage ich „Stopp, wir können ihnen total viel helfen, nur unsere therapeutische Richtung ist eine andere“. Das vorherrschende Gefühl, wenn ein Patient stirbt, ist „Ich habe als Arzt versagt“. Dass das was völlig Natürliches ist, das wird von den meisten nicht gesehen oder verdrängt.
Sie bezeichnen sich als Lebensbegleiter, als Spezialist für Lebensqualität. Wie passt das zusammen, da Sie als Palliativmediziner Menschen im Sterbeprozess begleiten?
Es gibt einen wunderschönen Cartoon von Charlie Brown, wo er mit Snoopy zusammen auf einem Bootssteg sitzt und mit ihm auf den Sonnenuntergang guckt und Charlie Brown sagt: „Snoopy, eines Tages werden wir alle sterben“, und dann sagt Snoopy: „Ja, das stimmt, aber an allen anderen Tagen nicht“.
Es geht ums Leben. Meine Arbeit dreht sich zu 99,9 Prozent ums Leben und nur 0,1 Prozent ums Sterben. Das ist die letzte Strecke und wir können so viel für diese Menschen tun. Wir können Schmerzen und Luftnot lindern, wir können Ängste nehmen, Übelkeit unter Kontrolle bringen, Angehörige begleiten, wir können schöne Momente schaffen, wir können letzte Wünsche erfüllen.
Ich sehe so viele strahlende Gesichter bei meinen Patienten und bei den Angehörigen, trotz des natürlich auch vorhandenen Elends. Eines meiner Ziele bei der Chefvisite ist, dass jeder Patient wenigstens mit mir lächelt. Ich möchte, dass sich Patienten auch wohl und sicher fühlen können.
Was passiert konkret, wenn ein Patient neu auf Ihre Station kommt?
Wir bieten ein Familiengespräch an, wo alle Menschen, die dem Patienten etwas bedeuten, dabei sein können. Es werden alle medizinischen Fakten auf den Tisch gelegt und erklärt, warum eine Chemotherapie oder andere gegen die Krankheit gerichtete Therapien nicht mehr sinnvoll sind. Dann sagen wir: „Das ist Plan B und das haben wir für Sie im Angebot“. Wir reden mit den Menschen auch sehr deutlich und direkt übers Sterben. Aber die Patienten können sicher sein, dass ich ihnen nicht jedes Mal, wenn ich zur Tür reinkomme ein Sterbegespräch aufdrücke.
Wie kann das gehen, „richtig“ zu sterben?
Der Untertitel meines Buches „Was wir für ein gutes Sterben tun können“ ist eine kleine Provokation. Denn natürlich kann das nur jeder Mensch für sich selbst entscheiden. Gut bedeutet für viele Menschen, mit denen wir sprechen, vor allem beschwerdearm. Dafür brauche ich ein fundiertes medizinisches Wissen in den Bereichen Schmerztherapie, Kontrolle von Luftnot und Ängsten. Ich muss mir bewusst sein, dass es psychische, soziale und spirituelle Anteile gibt, die einen riesigen Bereich ausmachen und um die ich mich mitkümmern muss.
Welche sind das zum Beispiel?
Wie kann ich mit einer guten Vorplanung dafür sorgen, dass die finanziellen Dinge vorausschauend geregelt sind? Was kann ich im Vorfeld tun, damit ich nicht in Vergessenheit gerate, wenn ich versterbe? Wie kann man Briefe an die Enkelkinder verfassen, die ihnen zu bestimmten Geburtstagen überreicht werden? Wie kann man die Erinnerung an einen Menschen wachhalten? Indem man Videobotschaften aufnimmt oder mit unserer Kunsttherapeutin gemeinsam noch ein Bild malt.
Wir ermöglichen schöne Erlebnisse auf der Station und ermutigen auch dazu Kinder mitzubringen, damit hier Leben in die Bude kommt. Auf unserer Station darf Leben stattfinden in allen Facetten, auch mit ganz viel Traurigkeit, aber auch mit schönen Momenten.
Wie schaffen Sie das, jeden Tag umzusetzen?
Dafür braucht es ein multiprofessionelles Team, da bin auch ich als Arzt allein auf verlorenem Posten. Ich brauche alle Mitarbeiter, die sich um den Patienten und seine Angehörigen kümmern. Dann gelingt es sehr oft, dieses beschwerdearme Sterben zu ermöglichen. Damit auch die Erinnerung der Angehörigen an einen erträglichen Tod eines geliebten Menschen hinzubekommen. Das ist total wichtig, dass die nicht mit irgendwelchen Schreckensbildern weiterleben müssen. Das ist uns ein Riesenanliegen.
Wir feiern Gedenkfeiern für die bei uns Verstorbenen, wo wir alle Angehörigen noch mal einladen und an jeden einzelnen Menschen erinnern. Es ist irre, was da passiert und was wir für Rückmeldung bekommen. Das ist so wertvoll für das Team. Ich sage immer, ich kann gar nicht soviel geben, wie ich zurückbekomme. Und das geht, glaube ich, allen meinen Mitarbeitern auch so. Wir haben ein hohes Maß an Arbeitszufriedenheit, trotz dem von außen betrachtet tiefstem Elend.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Buch von Prof. Dr. med. Sven Gottschling können Sie selbstverständlich portofrei in der Buchhandlung Hansen & Kröger bestellen! Möchten Sie noch mehr zu diesem Thema erfahren, dann lesen Sie auch unser Interview mit Matthias Thöns.