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Andreas Kriegenburg inszeniert Elias Canettis „Hochzeit“ bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen.

Dabei fing alles doch so „lustig“ an

Von Mark Seebürger

 Der „Hipsterfrisur“-Bräutigam Michel (mutig den korpulenten Schwächling spielend: Edgar Eckert) und seine „Girlie“-Braut Christa (Franziska Machens) sitzen steif auf einem luxuriösen Sofa und scheinen alles andere als wahrhaftig ineinander verliebt. „Ganz in Weiß“ von Roy Black fängt der verunsicherte Michel nach ungelenkem Abschreiten der Bühne zu singen an, verstrickt sich dabei allerdings schnell ins derartige romantisierte Überbetonen von Silben, dass die Braut vor ihm und dem entlarvenden falschen Ton flieht. Diesem komödiantisch-ironischem Intro folgt der Auftritt der Schauspielerinnen Nele Rosetz und Tabitha Frehner, die mittels Reißwolf aus den Theaterstück-Seiten von Canettis „Hochzeit“ eine Weißhaarperücke für die zu spielende Nichte-Großmutter-Szene schreddern. Canetti habe das Stück selbst für den Hörfunk eingesprochen, erklären sie. „Toll! Dann brauchen wir ja nicht so viel zu arbeiten.

"Hochzeit" von Elias Canetti wurde von Andreas Kriegenburg bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen inszeniert. Bildquelle: ©Arno Declair
“Hochzeit” von Elias Canetti wurde von Andreas Kriegenburg bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen inszeniert. Bildquelle: ©Arno Declair

Und im Übrigen glauben wir an die Familie als stützendes Fundament der Gesellschaft“, folgern sie staubtrocken. Sodann ertönt Canettis Stimme als Lesung seines „Hochzeit“-Stückes aus den Lautsprechern und die beiden Schauspielerinnen spielen dazu absichtlich schlechtes und grob gestikuliertes Vollplaybacktheater, bis Canettis Stimme langsam leiser und die Schauspielerinnenstimmen zeitgleich lauter werden und sie schließlich den Text selbst und gewollt über-engagiert sprechen. Zwei schöne, komische Einleitungen ins Stück, dessen folgende erste Szene sofort das Motiv der egoistischen Ausbeutung und Manipulation etabliert.

Die Fäulnis wohnt auf drei Etagen

Elias Canetti hat 1932 mit seinem Erstlingswerk „Hochzeit“ eine moralische Satire verfasst, in der moralisch verfaulte Menschen in einem dreistöckigen Haus immer ungehemmter ihre geilen Triebe und Geldgier austoben. Die junge Toni Gilz (Tabitha Frehner) wartet ungeduldig auf den Tod ihrer Großmutter (Nele Rosetz), damit sie deren Haus erben kann. In der Souterrainwohnung wird die sterbende Hausmeistergattin von ihrem bigotten, unablässig aus der Bibel lesenden Ehemann malträtiert, während in der oberen Belle-Etage die immer betrunkener werdende Hochzeitsfeier der Familie Segenreich außer Kontrolle gerät. Brautvater Segenreich (Jörg Pose) wird immer wieder in bedrohlichem Ton verkünden „Dieses Haus steht fest!“. Schließlich legt ein Erdbeben das bis auf seine Grundmauern verrottete Haus in Schutt und Asche. Alle kommen ums Leben. Man kann das Stück als Vorahnung der Nazi-Diktatur oder als aktualisierten Kommentar zu heutigen Rechtspopulisten lesen. Die Inszenierung aktualisiert jedoch nicht.

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Mit Scherz Entsetzen treiben

Regisseur Andreas Kriegenburg und sein körperlich und als „Knallchargen“-aufspielendes Ensemble betonen schonungslos derb-flach-witzelnd die grelle Farce des Stückes als selbst-zersetzenden Untergang einer egomanen, destruktiven Gesellschaft, in welcher selbst das 15jährige, sexuell kokettierende Mariechen (Nina Gummich) nicht vorm geifernden, übergriffigen 80jährigen Hausarzt Dr. Bock (Marquart Müller-Elmau) und der Bräutigam nicht vor der aggressiven Brautmutter (Natali Seelig) verschont bleiben. Die um einige Nummern zu großen Kostüme und das expressionistische Makeup von Kostümbildnerin Andrea Schraad unterstreichen das Grelle. Die rasante Spielweise ist mitunter erstaunlich akrobatisch und amüsant, und die Schauspieler werfen sich voller Elan entschlossen in die überzeichnete Darstellung von eigentlich unsympathischen Figuren. Aber streckenweise ist diese komödiantische Spielweise für Gehör und Orientierungssinn überfordernd, da durch Lautstärke, parallel laufende, musikalisch untermalte Szenen und Vernuscheln viele Sätze akustisch untergehen. Die jüngeren Spieler sind zudem wesentlich klarer zu verstehen als ihre älteren Mitspieler, die zum langjährigen Stammensemble Kriegenburgs gehören. Ein qualitativ hörbarer Sprechunterschied! Hier geht das Exzessive der Inszenierung auf Kosten des Stückes. Doch ist es schon faszinierend, wie sicher und detailliert Kriegenburg diese „Chaos-Orgie“, diese ausufernde „Unordnung“ inszeniert hat und er sich erneut als Ensemble-Regisseur erweist. Keine Figur geht unter, und sei es auch die „Rand“-Figur des todkranken, Sekrete-verteilenden, in Flaschen urinierenden Apothekers Gall (Elias Ahrens), der größtenteils am Bühnenrand sitzend das Treiben beobachtet und kommentiert. Lange Zeit ist er der moralische Seismograf, doch leider wird er am Ende der betrogene mörderische Entfacher eines Blutbades sein.

Die Stille vor dem Kollaps

Eine moralische Satire und das Erstlingswerk von Elias Canetti aus dem Jahr 1932. Bildquelle: © Arno Declair
Eine moralische Satire und das Erstlingswerk von Elias Canetti aus dem Jahr 1932. Bildquelle: © Arno Declair

Doch gibt es in all dem Bühnen-Wahnsinn auch drei starke Momente:

Unangekündigt kippt plötzlich Harald B. Thors rissiges „Stein“-Wand-Bühnenbild durch Hydraulikelemente leicht schräg zur Seite und wird im Verlauf der Handlung immer heftiger von einer zur anderen Seite schwanken. „Ich glaub’ ich hab’n Schwipps!“ sind die zunächst noch verleugnenden Reaktionen der torkelnden Betrunkenen. Als der narzisstische Idealist Horch (Moritz Grove) auf dem Höhepunkt der alkoholisierten Werte-Entgleisung das apokalyptische Erdbeben in einem unheimlich-hochmütigem Gesellschaftsspiel ankündigt, herrschen schlagartig Stille und Stillstand auf der Bühne und ist die Gefahr förmlich greifbar, bevor die Ignoranten wieder munter weiterwitzeln. Plötzlich bekommt das Bühnenbild einen riesigen Riss und auch hier ist die Reaktion die eines sekundenlangen erschreckten Stillstandes. Dann bricht Hysterie aus, die in ein minutenlanges gegenseitiges Gemetzel aller Beteiligten gipfelt – auch hier greift Kriegenburg inszenatorisch zur Comic-haften Darstellung des Abschlachtens, Erstechens und Aufschlitzens, was das irrsinnige Treiben nur noch abscheulicher aussehen lässt.

(K)Ein Lichtblick?

Der Schrecken und das Unbehagen lösen sich auch beim langen Schlussapplaus nicht ganz auf:

Über einem Berg von Leichen hängt die Staubdecke des eingestürzten Bühnenbildes und aus dessen Trümmern entsteigt am hinteren Bühnenende die schemenhaft-beleuchtete Nele Rosetz herauf und spricht über Mikrofon einen (zeitgenössischen?) politischen Ex tempori-Kommentar zum Stück und zur heutigen verrohten Umgehensweise mit Politik, Gesellschaft und Kultur. Im Zuschauersaal ist es totenstill. Und obwohl der gesprochene Kommentar schnell ins leicht Pathetisch-Kryptische abgleitet, bleibt die Anspannung dennoch bestehen. Vielleicht sollte der Text ein feiner mahnender Hoffnungsschimmer auf Besserung der momentanen Zustände sein? Oder doch eher ein pessimistischer Zukunftsausblick? Ein direkterer, weniger symbolhafter Text hätte dem Ende dieser exzessiven, überfrachteten, zugegeben sich-angreifbar-machenden und mutig(?)-rigorosen Inszenierung mehr Eindeutigkeit und Kraft gegeben.

Und vielleicht auch mehr Trost.

Alle Informationen über den noch verbleibenden Spielplan der Ruhrfestspiele Recklinghausen finden Sie hier!

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