Die Sehkraft zu verlieren ist ein starker Einschnitt, mit dem Menschen unterschiedlich umgehen. Erfolgt dies schleichend, können sie sich vorab Fähigkeiten und Kenntnisse aneignen, die das Leben als blinder Mensch erleichtern. Wer durch einen Unfall erblindet, muss sich unmittelbar mit der neuen Situation arrangieren.
Cintia Spellmeier von der 1837 gegründeten Frankfurter Stiftung für Blinde und Sehbehinderte berät blinde und sehbehinderte Menschen 59plus. Ein häufiger Grund ist die altersbedingte Makuladegeneration. Fast zwei Drittel der Empfänger von Blindengeld sind über 65 Jahre alt.
Wie gehen ältere Menschen mit dem Verlust ihrer Sehkraft um? Die Sozialpädagogin Spellmeier berichtet: „Wer kognitiv fit ist, gut hört und tasten oder riechen kann, hat gute Voraussetzungen. Kann der Mensch mindestens kurze Strecken laufen, spricht auch mit 90 Jahren nichts gegen eine Schulung in Orientierung und Mobilität, um den Umgang mit dem Blindenstock zu erlernen.“ Schmunzelnd erinnert sich Spellmeier an das Gespräch mit einem 72-Jährigen, der treffend sagte: „Wenn ich schlechter sehe, muss ich viel mit dem Gedächtnis arbeiten, um mir zu merken, wo ich etwas hingelegt habe.“ Daher ist ein intaktes Gedächtnis ein weiteres Plus, um sich als blinder Mensch selbstständig zurechtzufinden.
Was hilft beim Umgang mit dem Verlust der Sehkraft?
Die Persönlichkeitsstruktur spielt eine große Rolle. Dazu erklärt uns Spellmeier: „Wer flexibel ist, Veränderungen akzeptieren kann und sich bereit erklärt, sich mit neuen Dingen auseinander zusetzen, hat es leichter. Einen starken Einfluss hat die Lebenserfahrung: Wie ist der Mensch bislang mit Verlusten und Abschieden umgegangen? Ist sie oder er noch flexibel genug, um Veränderungen anzunehmen und die neuen Grenzen zu akzeptieren? Gibt es ein verlässliches, unterstützendes soziales Umfeld?“
Die Wahrnehmung über das, was noch geht oder nicht, ist subjektiv. So erzählt die EUT-Beraterin Spellmeier, dass ein älterer Mensch in ihre Beratung kam und sagte: Ich bin erblindet. Auf Nachfrage stellt sich heraus, dass der Mensch noch eine Sehkraft von 30 Prozent hat, also sehbehindert ist, aber nicht blind. Trotzdem fühlt es sich so an, und er traute sich kaum noch etwas zu.
Ein anderer Senior erklärt ihr munter, dass bei ihm noch fast alles geht. Lediglich mit der Bohrmaschine zu hantieren wird ihm mittlerweile zu gefährlich. Mit nur fünf Prozent verbleibender Sehkraft hat er sich recht gut arrangiert.
Digitalisierung und Inklusion
Lebt der blinde oder sehbehinderte Mensch in der Stadt mit einer guten Infrastruktur und leicht verfügbaren Angeboten der Beratung, hilft das beim eigenständigen Leben weiter. Auch die Digitalisierung lässt den Alltag leichter bewältigen, zum Beispiel mit technischen Hilfsmitteln wie einer Smartwatch mit Blindenschrift, einer Kamerabrille oder barrierefreien Apps.
Gewohnte Wege zu gehen, ist für blinde Menschen meist nicht schwer – zumindest solange keine Baustelle über Nacht auftaucht und Umwege erfordert. Schwierig wird es an unbekannten Orten: Hier kann eine App hervorragende Dienste bei der Navigation leisten, wenn die gewünschten Strecken und Ziele integriert sind.
Für betagte Menschen ist die Technik manchmal eine fremde Welt, die sie sich nicht mehr zutrauen. Cintia Spellmeier: „Können Sie sehen, haben Sie noch eine stärkere Kontrolle über das Smartphone. Bekommen Sie Informationen nur über das Hören, wird es schwierig, diese einzuordnen und die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Ich erlebe manchmal eine größere Offenheit bei den Menschen, die in ihrem Berufsleben noch mit Computern gearbeitet haben.“
Was hilft blinden Menschen im Alltag?
Die Beratung in der Stiftung oder zu Hause soll den Menschen ermöglichen, selbstbestimmt und in ihrer gewohnten Umgebung zu leben. Hilfsmittel für den Alltag, ehrenamtliche Begleitangebote und der Kontakt zu Selbsthilfegruppen sind wichtig.
Manche blinde Senioren bekommen von Kindern oder Enkeln eine Alexa geschenkt und eingerichtet. Können sie den digitalen Sprachassistenten nicht selbst verwalten, braucht es Menschen im Hintergrund, die helfen. Deshalb hilft ein gut funktionierendes soziales Netzwerk. Kontakte zu Jüngeren oder Gleichaltrigen, die fitter sind, sind eine wichtige Stütze, um Einsamkeit und soziale Isolation zu verhindern.
Im Alltag gibt es clevere Hilfsmittel wie große gedruckte und kontrastreiche Papierkalender oder sprechende Wecker und Küchenwaagen sowie Bildschirmlesegeräte. Vergrößernde Sehhilfen, gut lesbare Stifte, Unterschriftenschablonen und taktile Markierungspunkte für Herd oder Waschmaschine unterstützen ebenfalls das selbstbestimmte Leben.
Die Werkstatt-Galerie 37
Um das Selbstvertrauen zu fördern, bietet die Frankfurter Stiftung seit 1991 ein Freizeitangebot der besonderen Art an. In der Werkstatt-Galerie 37 können blinde Menschen und Menschen mit Sehbehinderung künstlerisch tätig werden. Mit weichen Steinen wie Speckstein, aber auch mit Tuff, Alabaster und Ton erarbeiten sie Skulpturen. Die Werke werden ausgestellt und verkauft, wie die Skulptur „Großer Kopf“ von Helene Wenzel, die seit 1991 mit Speckstein arbeitet. Die künstlerische Herangehensweise unterscheidet sich zwischen Menschen, die seit der Geburt blind sind, und Menschen, die im Erwachsenenalter erblindeten. Letztere bringen noch sehende Vorbilder mit, die sie künstlerisch umsetzen wollen.
Gibt es das inklusive Museum schon?
Die Mitglieder der Werkstatt-Galerie besuchen regelmäßig Museen. Die Leiterin der Werkstatt Heike-Marei Heß berichtet: „Im Rahmen einer speziellen Führung werden ausgewählte Objekte ertastet, teilweise nur mit Handschuhen. Insgesamt hat sich in den letzten Jahren vieles verbessert. Es gibt Führungen mit ausführlicher Bildbeschreibung, in Gebärdensprache und einfacher Sprache, aber vom inklusiven Museum sind wir noch weit entfernt. Bedürfnisse, die sich zum Teil widersprechen müssen berücksichtigt werden. Ein Beispiel: Rollstuhlfahrer wollen möglichst keine Barrieren, blinde Besucher brauchen Leitsysteme, an denen sie sich orientieren können. Bezüglich der blinden und sehbehinderten Menschen stehen konservatorische Gründe dem Wunsch nach taktiler Erkundung der Objekte gegenüber. Blinde Besucher wünschen sich eine leichte Orientierung, Übersichtlichkeit und eine eher geringe Anzahl an Objekten. Menschen mit Sehbehinderung benötigen eine kontrastreiche Umgebung, die Beschilderung mit großer Schrift und möglichst wenig reflektierende Elemente.“
Für mehr Informationen:
Kontakt Cintia Spellmeier, Frankfurter Stiftung für Blinde und Sehbehinderte: spellmeier@sbs-frankfurt.de
Kontakt Heike-Marei Heß, Werkstatt-Galerie 37: hess@sbs-frankfurt.de