Es gibt sie, diese Momente in denen sich alles auf einmal verändert. Nichts ist mehr wie es vorher war, und eine völlig neue Situation muss gemeistert werden. Nicht selten haben diese heftigen Veränderungen mit Abschied zu tun, so auch in meinem Fall.
Die Diagnose
Es war ein Montag im Mai als meine Freundin Britta* mich anrief und mir mitteilte, dass ihre Mama Ilse* gerade die Diagnose eines Hirntumors erhalten hat. Wir sind alle seit einigen Jahren sehr gut befreundet, und daher war ich mindestens genauso überrascht wie sie. Ich überlegte nicht lange, setzte mich ins Auto und fuhr zu den beiden.
Britta und Ilse waren völlig geschockt. Wir saßen zusammen im Garten, die Sonne schien und wir versuchten irgendwie mit dieser Situation umzugehen – einfach, indem wir erst mal darüber sprachen, was nun weiter geschehen würde. Die Zeit drängte und die behandelnde Onkologin, bei der Ilse bereits die letzten 3 Jahre mit einer sogenannten Antikörpertherapie in Behandlung war, hat die beiden direkt an einen Neurochirurgen überwiesen. Dieser sollte entscheiden, ob der Tumor bestrahlt oder sogar operiert werden soll.
Ich war sehr überrascht das zu hören, Ilse ist 76 Jahre alt und hatte in den letzten 15 Jahren bereits zwei Mal Krebs. Wie viel konnte man ihr noch zumuten bei ihrem derzeitigen Gesundheitszustand? Die letzte Diagnose war in 2014. Damals wurde ihr von der Onkologin bereits prognostiziert ,dass sie den Krebs niemals würde besiegen können. Mit der zu dem Zeitpunkt angeratenen Antikörpertherapie wurde ihr jedoch wertvolle Lebenszeit geschenkt, für die Ilse sehr dankbar war.
Im Dezember letzten Jahres entschied sie sich jedoch diese Therapie abzusetzen. Jetzt, fast fünf Monate später, war also ein walnussgroßer Tumor in ihrem Kopf gewachsen und ein Neurochirurg sollte entscheiden, welche die beste Behandlung sei. Aufklärung und das Aufzeigen von Alternativen wie z. B. eine palliative Versorgung oder ein Abwägen von Chancen und Risiken? Fehlanzeige! Empfohlen wurden sieben Bestrahlungen über einen Zeitraum von 3 Wochen.
Die Maschinerie der Schulmedizin
Es gab keine Zeit zum Luft holen oder die Situation erst mal zu verarbeiten. Nur eine Woche später begann im Krankenhaus die Bestrahlung des Tumors. Und noch immer gab es keine Prognosen seitens der Ärzte, welchen Erfolg man sich von dieser Behandlung versprach. Oder sollte man besser Tortur sagen? Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Ilse einfach nur „abgearbeitet“ wurde, ohne Rücksicht auf ihre Befindlichkeit oder die Sinnhaftigkeit dieser Therapie.
Ich besuchte Ilse im Krankenhaus. Inzwischen hatte sie vier Bestrahlungen leidlich überstanden. Im ersten Moment, als ich sie sah, war ich entsetzt. Das Gesicht war inzwischen vom Cortison aufgedunsen, ihr Körper ausgemergelt und dünn. Vollkommen kraftlos wirkte sie. Selbst kleine Spaziergänge waren dieser sonst so bewegungsfreudigen Frau schon zuviel und darüber hinaus war sie sichtlich verwirrt. Es wirkte befremdlich auf mich und ich fragte mich erneut: Warum tut man ihr das an?
Nach weiteren drei Bestrahlungen wurde Ilse eine Woche später aus dem Krankenhaus entlassen, um eine Reha zu beginnen. Zuhause angekommen, stellte sich schnell heraus, dass Ilse in nächster Zeit auf gar keinen Fall alleine zurechtkommen würde. Ich selbst verbrachte einen ganzen Tag gemeinsam mit ihr und mir wurde sehr schnell klar: Hier geht es nicht mehr um Rehabilitation, sondern um einen Abschied auf Raten.
Dennoch klammerte sich die Familie an den Gedanken, dass es Ilse in oder nach der Reha bald wieder besser gehen würde, denn die Hoffnung stirbt zuletzt.
Die Entscheidung
Wenige Tage später rief mich meine Freundin hilflos und aufgelöst an. Ilse hatte eine Psychose – sie war in der Nacht aufgestanden, irrte verwirrt durch das Haus, war von einer unfassbaren Unruhe getrieben und stürzte mehrfach. Britta konnte nicht mehr. Sie war mit der Situation vollkommen überfordert, wusste einfach nicht was zu tun war und bat mich um meine Hilfe.
Ich zögerte nicht lange, packte ein paar Sachen und fuhr zu den beiden nach Hause. Bereits auf den ersten Blick war mir klar: Hier stehen zwei völlig hilflose Menschen vor mir. Die eine bereits ein Pflegefall und wohl wissend, dass sie bald sterben wird, die andere völlig überfordert mit der Gesamtsituation, wie denn ihre Mutter nun versorgt werden muss.
Ab diesem Zeitpunkt übernahm ich die gesamte Koordination für das, was nun geschehen sollte – damit meine Freundin Britta ganz für ihre Mutter da sein konnte. Wir wollten Ilse jetzt nicht mehr alleine lassen, sie würde bald sterben, das war uns klar. Die Reha wurde abgesagt, wir teilten uns in Tag- und Nachtschicht ein, um sie rund um die Uhr zu betreuen und zogen schließlich, fast zu spät, einen Palliativarzt hinzu, der Ilse auf ihrem letzten Weg mit begleiten sollte.
Die erste Frage von ihm war: Hat die Patientin eine Patientenverfügung und Generalvorsorgevollmacht? Beides hatte Ilse zum Glück vor Jahren beim Notar hinterlegt, eine Grundvoraussetzung, um in einem Hospiz aufgenommen zu werden.
Doch woher jetzt so schnell einen Hospizplatz bekommen? Bisher hatte keiner von uns Erfahrungen mit diesem Thema gesammelt. Also fragte ich eine andere Freundin, sie gab mir die Kontaktdaten eines Hospizes, in dem ihr Vater verstorben war und ich rief dort an. Man begegnete mir – auch an einem Samstag – mit meinem Anliegen, meiner Unkenntnis und vor allem meiner Not auf eine sehr verständnisvolle Art und Weise.
Zwischen Hoffen und Bangen
Ich wurde aufgeklärt, dass es sogenannte Wartelisten gibt, kein sehr schöner, aber dennoch passender Begriff. Zusätzlich sollten wir Ilse bei mehreren Hospizen anmelden und am besten in der Umgebung der betreuenden Angehörigen, um lange Wege zu vermeiden.
Im nächsten Schritt beauftragte ich für die Übergangszeit zuhause den palliativen Pflegedienst. Parallel dazu telefonierte ich mit der Krankenkasse, die mich aufklärte, dass wir zunächst einen Pflegegrad beantragen und bestimmen lassen müssen. Dieser ist für die Aufnahme in einem Hospiz wichtig und notwendig.
Alle Telefonate mit den verschiedenen Hospizen im Umkreis von Brittas Wohnort brachten das gleiche Ergebnis: Aktuell sei kein Platz frei, aber wir könnten Ilse gern schon anmelden. Man würde uns anrufen, sobald ein Zimmer frei sei, im Klartext bedeutete das, dass ein Gast zuvor gestorben ist.
Die Versorgung von Ilse in ihrem Zuhause wurde immer schwieriger, die neurologischen und psychischen Ausfälle immer schlimmer. Für Britta wurde die gesamte Situation zu einem riesigen Kraftakt, der es ihr fast unmöglich machte, sich selbst auch noch um die ganzen Formalien zu kümmern. Und mir als Außenstehende wurde auf einmal bewusst, wie wichtig Auszeiten für die pflegenden Angehörigen sind. Wie wichtig die eigene Kraft der Betreuenden ist, um dem Sterbenden gut zur Seite stehen zu können. Und das man immer wieder mit der quälenden Frage konfrontiert wird: Machen wir das alles richtig?
Wir waren verzweifelt. Wie lange würde es dauern bis der erlösende Anruf kommt? Doch auf einmal ging alles sehr schnell. Ilse konnte drei Tage später in ein Hospiz in der Nähe ihres Wohnortes einziehen.
Vom Leben und vom Sterben
Die Erleichterung war unfassbar groß. Gleichzeitig wurde uns schlagartig bewußt, dass der Abschied jetzt endgültig bevor stand. Wenn Ilse am kommenden Montag in Begleitung ihrer Tochter die Haustür schließt, wird sie ihr Zuhause nie wiedersehen.
Ilse ist im Hospiz im Beisein ihrer Familie verstorben. Sie wurde während dieser drei Wochen im Hospiz fürsorglich und vor allem liebevoll betreut, von Pflegern, Palliativmedizinern und zahlreichen Ehrenamtlichen, denen an dieser Stelle meine volle Hochachtung und mein aufrichtiger Dank gilt. Ihnen sei in Kürze ein ausführlicher Artikel gewidmet, denn ihre Arbeit ist nicht mit Geld aufzuwiegen.
Es waren aber vor allem drei Wochen in denen in mir der Gedanke reifte, hier bei 59plus die Rubrik “Vom Leben und vom Sterben” entstehen zu lassen. Ein Ort, an dem es den nötigen Raum für den Austausch rund um das Thema Sterben gibt. Informationen, Ratschläge und Hilfestellung dazu, wie man diesem Thema bereits im Leben begegnen kann.
Mir ist es ein persönliches Anliegen, dass Sie sich mit dem Thema auseinandersetzen können, um nicht von der Situation überrollt zu werden, wenn sie einmal eingetreten ist. Ich möchte meine Eindrücke an Sie weitergeben. Ihnen ein offenes Forum bieten, um über eigene Erlebnisse, die Hilflosigkeit und Ohnmacht, aber auch die schönen Momente und Situation, zu sprechen.
Für diese Erfahrung und die daraus entstandenen Erkenntnisse danke ich Ilse und Britta an dieser Stelle ausdrücklich.
Jetzt aber freue ich mich auf den Austausch mit Ihnen, liebe Leser. Und darauf nicht nur dem Alter, sondern auch dem Leben und dem Sterben, hier bei 59plus, ein neues Gesicht zu geben.
Ihre Simone Brüggemann
*Namen von der Redaktion verändert
Mich hat die Geschichte vom Leben und vom Sterben zu Tränen gerührt , es erinnerte mich so sehr an meinen Mann , der im letzten Jahr verstorben ist . 7,5 Jahre gegen den Krebs gekämpft und doch verloren.. Diese Chemos waren im letzten Jahr so schrecklich und der Zustand wurde immer schlimmer . Er fiel ständig hin und es war schwer ihn zu mobilisieren.. Und wieder wurde noch eine andere Chemo probiert, die gab dann den Rest, es ging rapide runter. Er konnte alleine nicht mehr laufen , kurz danach kam er gar nicht mehr aus dem Bett . Er bat mich meine Zeit mit ihm, in unserem Schlafzimmer zu verbringen , er fühlte sich allein und hatte Angst allein zu sterben, den Gedanken hatte er bisher gar nicht zugelassen , damit war für mich klar , wir haben nicht mehr viel Zeit .. Putzen und aufräumen kann ich immer noch , aber die kostbare Zeit die kann ich nicht zurück holen.. Es waren 2 intensive Monate , mit ganz tiefen und ohne Schnörkel verpackte Gespräche .. Wir haben uns so nah gefühlt und es war vollkommen .. Das hat mir soviel gegeben und ich weine immer wenn ich daran zurück denke..
Wütend gemacht hat mich 3 Monate vorher , der behandelnde Professor, der mir dann irgendwann sagte, ich solle mich jetzt schnell um einen Hospizplatz kümmern ,ich war tief enttäuscht weil es so kalt mitgeteilt wurde . Hospiz war nie ein Thema für uns!
Es kam dann alles anders da sich der Zustand drastisch verschlechtert hatte und er zurück in die Klinik kam .. Er wurde weiter mit Flüssigkeiten und Flüssignahrung versorgt , obwohl wir eine Patientenvollmacht / Verfügung hatten .. Es ging eine Woche so , bis eine Schwester kam und mich fragte , wie lange ich mir das noch ansehen wolle wir hätten doch alle Papiere die nötig wären , dem hier entgegen zu wirken.. Sie sagte das die Oberärztin gleich käme und ich ihr klar sagen solle , was eigentlich durch die Verfügungen klar war . Er ist Stunden später friedlich und ohne Schmerzen eingeschlafen.
Mein Mann ist 79 Jahre alt geworden .
Die Hoffnung hatte er immer , weiter zu leben . Ich weiß nicht ob man diese Quälerei solange verantworten kann ..
Vielen herzlichen Dank für Ihren so offenen Kommentar hier bei 59plus. Ich komme erst jetzt dazu darauf zu antworten, weil wir Ilse am vergangenen Montag beerdigt haben. Es ist so unfassbar wichtig alle notwendigen Dokumente wie eine Patientenverfügung und Generalvorsorgevollmacht vorliegen zu haben, um dann darauf gegenüber den Ärzten zu bestehen. Das kostet ggf. viel Mut, aber dieser ist wichtig, um die Wünsche der Betroffenen umzusetzen.
Mich freut es aufrichtig, dass Sie noch diese intensive Zeit zuhause hatten und vieles miteinander austauschen konnten. Das ist wertvoll und macht es Ihnen sicherlich leichter nun ohne ihren geliebten Mann weiter zu leben. Mit aufrichtig herzlichen Grüßen, Ihre Simone Brüggemann
Danke für diesen mitfühlenden Bericht. Wir können nur alle Betroffenen ermutigen, über sich selbst zu bestimmen und sich die Zeit zu nehmen, die der Kranke braucht.
Sehr gerne. Mir ist es ein besonderes Anliegen vor allem Auklärung zu betreiben. Zeit und Ruhe, um die richtigen Entscheidungen zu treffen ist so wichtig in so einem Prozess. Herzliche Grüße Ihre Simone Brüggemann
Das ist ein sehr mitfühlender Bericht.
Danke, lieber Herr Fallier!
Danke für diesen Bericht. Ich habe in den letzten Wochen und Monaten viele Schicksale gehört – im Arztwartezimmer und auf der Bank in der Einkaufsstraße, da komme ich öfter mit Leuten ins Gespräch, einfach so. Ich bin selbst mit heftigen Rückenproblemen konfrontiert plus andere Kleinigkeiten und quäle mich seit 1 1/2 Jahren mit Rollator einigermaßen durch die Gegend. 2011 ging es – mit Ruhepausen auf Bänken und Treppen – noch besser, und ich traute mir sogar ein paar Tage Urlaub in Hamburg zu. Meine erste Aktion war eine Stadtrundfahrt, und weil ich mit den Rückenschmerzen nicht “nach oben” wollte, kam ich mit dem Busfahrer ins Gespräch. Den wurde ich dann nicht mehr los, und im Februar 2016 haben wir geheiratet. Nur wir beide, still und heimlich – der Termin stand schon fest, als sich meine Mutti Mitte Januar das Leben nahm… 2 Wochen später die Trauerfeier, und weitere 2 Wochen später bei einer Routineuntersuchung wurde bei meinem Mann Joachim ein Lungentumor entdeckt. Chemotherapie und Bestrahlung folgten, in der Woche vor Weihnachten wurde dann operiert. Weihnachten in der Lungenklinik, das hatten wir uns nicht so vorgestellt, aber man gibt ja die Hoffnung auf bessere Zeiten nicht auf. Im Januar 2017 Atem-Reha, ohne merkliche Erfolge. Im März dann die Diagnose – Wasser in der Restlunge. Wieder OP, es waren 3 Liter Wasser, kein Wunder, dass es mit dem Atmen nicht besser geworden war. Joachim erhielt danach Pflegestufe 1, mir attestierte man 0 Punkte, ich musste ja als Pflegeperson herhalten. Dass ich mich häufig an Möbelstücken und Wänden durch die Wohnung schleifen muss, keine Reinigungsarbeiten oder Einkäufe erledigen kann – interessierte nicht. Durch die Pflegestufe kam nun wenigstens 1x pro Woche jemand zum Reinigen… In der Woche vor Ostern kollabierte Joachim ohne Vorwarnung – sofort Krankenhaus. Er wurde noch in der Nacht operiert, man hatte 3 Hirntumore gefunden. Davon wurden 2 entfernt, der 3. lag zu nah am Hirnstamm, eine Entfernung wäre zu gefährlich gewesen. Wieder folgte wochenlange Bestrahlung, der einsetzende Muskelschwund machte sich mehr und mehr bemerkbar, aber trotzdem gab es wieder eine Reha – im November. An seinem 65. Geburtstag habe ich ihn dort besucht – fragen Sie mich jetzt nicht, WIE ich das mit meinen eigenen abartigen Schmerzen hingekriegt habe, aber Liebe und Sorge versetzen ja bekanntlich Berge… Und Joachim? Im Sitzen auf dem Rollator, Laufen ging nicht mehr, er hat an so gut wie keiner Therapie teilgenommen – die meiste Zeit hat er geschlafen. Zumindest hatte jemand in der Klinik eine Neufestsetzung der Pflegestufe beantragt, bevor Joachim vorfristig nach Hause durfte. Dort wartete schon sein Geburtstagsgeschenk auf ihn. Sein Traum war seit langem ein Wellensittich als Haustier. Mit viel Zeit und Schmerzen hatte ich es während der Reha geschafft, alles zu kaufen, zusammenzubauen und 2 Wellensittiche aus dem Tierheim zu holen. Viel Schmerzen, Kraft und Taxikosten, aber das war es Wert. Die kleine blaue Franziska (Franzi) und die kleine gelbe Friederike (Frieda) waren und sind eine tolle Aufmunterung. Dann kam das Pflegebett, erst kam nur jemand 1x täglich zum Verbinden von Joachims offenen Füßen, dann trat das Palliativteam auf den Plan… Von diesem Zeitpunkt an habe ich “Hoffnung” nur nach außen gespielt, aber im Internet recherchiert, wie ich nach dem schlimmsten Fall am besten reagiere und agiere. Im Frühjahr 2017 hatten wir – als es wenigstens noch etwas Hoffnung gab – wichtige Unterlagen fertiggestellt, Testament, Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht, Vorvertrag mit Bestattungsunternehmen (unter Einbeziehung der Sterbegeldversicherung) – für ihn und für mich. – Da Pflegestufe 1 nicht wirklich Hilfe bietet, war ich ständig im 24-Stunden-Dauereinsatz. Der Toilettenstuhl war auch keine Hilfe, trotz Minimum 2 Stunden Kampf war es nicht möglich, Joachim vom Bett auf den direkt daneben stehenden Stuhl zu bugsieren… Urinbeutel wechseln und Füttern waren noch die einfachsten Sachen… Ich habe nicht gezählt, wie oft ich vor Schmerzen heulend Mahlzeiten zubereitet und gefüttert habe, bei jedem Ruf von Joachim an seinem Bett war etc etc. Sein Kurzzeitgedächtnis ging nach und nach verloren, er wusste nicht mehr, dass er zu Hause ist – und du sitzt daneben, hältst seine Hand und erklärst 100x und mehr alles nochmal, wie bei einem Kleinkind. Die “Kleinkind-Trotzphasen” hatte er auch – wenn er in den wenigen lichten Momenten merkte, dass er nicht so kann, wie er will. Dann flog schon mal alles, was erreichbar war, durch das Wohnzimmer… Ab Weihachten kam neben der wöchentlich einstündigen Reinigungshilfe täglich morgens jemand, um Joachim zu waschen – Zeit: 12 Minuten. Der MDK erschien am 11.1.2018 zur Neufeststellung der Pflegestufe. Am 18.1.2018 kam die Benachrichtigung “Pflegestufe 5” – am 19.1. verstarb Joachim. Während der letzten 3 Tage hatte er jegliche Nahrung verweigert, bekam Morphium gespritzt. Habe ich zum Teil selber gemacht – wer 4x täglich Insulin spritzt und das richtig erklärt bekommt, hat da keine Berührungsängste. Das Palliativteam hat mir in der Zeit sehr geholfen, sie kamen immer sehr schnell, wenn ich nicht weiter wusste… Am wichtigsten für mich war die Tatsache, dass Joachim völlig mit sich im Reinen war, als er starb – er war ganz ruhig und entspannt, hörte einfach auf zu atmen… Während ich das hier jetzt schreibe, heule ich mir wieder mal die Augen aus dem Kopf, eine Packung Taschentücher musste schon dran glauben. Aber das muss ab und zu auch mal sein. Und ohne meine beiden Mini-Adler Frieda und Franzi wäre es viel schlimmer. Die beiden Piepser und ihre lustigen Marotten – und ganz liebe Nachbarn! – sind eine große Hilfe. Ich hoffe für jeden, der mit so einer traurigen Situation umgehen muss, dass er/sie genug Kraft, Hilfe und auch Aufmunterung hat, um diese Zeit zu überstehen. Ich bin in Gedanken bei allen Betroffenen, vor allem bei denen, die noch viel länger diesen Kampf führen müssen…
Liebe Frau Hoppe,
ich möchte Ihnen mein aufrichtiges Beileid zum Verlust Ihres Mannes aussprechen, auch wenn ich aus der eigenen Erfahrung weiß, das es auch eine Erleichterung ist. Die Sorgen, die Mühen, das Warten, das Hoffen, die Enttäuschungen, die Rückschläge, die Wut und die Trauer – all das darf nun seinen Platz finden, weil Ihr Mann endlich die Erlösung gefunden hat.
Sie beschreiben die Situation so detailliert und so genau, dass ich förmlich die Anspannung, die Not und die Hilflosigkeit spüre, die ich selbst in der Situation mit Ilse empfunden habe. Ja, die Angehörigen, fast egal ob pflegend oder nicht pflegend, werden leider sehr häufig allein gelassen, wenn der Betroffene dann austherapiert ist. Sie werden nach Hause geschickt und auf einmal steht man allein dar. Hier leistet die Palliativmedizin einen großen Dienst. Auch die häufig daran angeschlossenen Hilfsdienste und Netzwerke sind eine wirklich wunderbare und hilfreiche Unterstützung – leider wissen viel zu wenige Menschen davon. Deswegen bewegen wir das Thema hier bei 59plus und möchten mit unseren, Ihren und meinen Erfahrungen, den aktuell Betroffenen Mut und Kraft geben dafür, auch mal kritisch zu hinterfragen. Wofür wird diese Behandlung nun noch gemacht? Welche Chancen erhält der Betroffene dadurch und welche Risiken muss er dafür in Kauf nehmen? Welche Alternativen gibt es und was muss vielleicht schon mal vorbereitet werden (z. B. die Eintragung auf einer Warteliste für einen Hospizplatz)? Fragen über Fragen, mit denen man in der Situation selbst häufig überfordert ist.
Daher danken wir Ihnen von herzen für diesen offenen Kommentar und den Einblick. Wie gut das die beiden Mini-Adler Ihnen jedoch weiterhin ein Lächeln auf das Gesicht zaubern und sie mit diesem an Ihren Mann denken.
Ihre Simone Brüggemann