Neben diesem Blog sind wir mit 59plus auch auf Facebook, Instagram und Twitter täglich aktiv. Über Twitter kamen wir in Kontakt mit der Autorin Brigitte Cleve. Mit ihrem Account @sonwikblick twittert sie dort seit vier Jahren fleißig. Schnell bemerkten wir, dass Brigitte schon einiges erlebt und viel zu sagen hat, und luden sie zu einem Interview ein.
Durch Twitter lernte Brigitte nicht nur uns, sondern auch eine Frau kennen, die mittlerweile für sie „im echten Leben“ zu einer wichtigen Freundin geworden ist. Deshalb möchte sie Älteren Mut machen, auf Twitter oder anderen Social Media-Kanälen Kontakte zu pflegen. Brigitte hat einen Tipp für Einsteiger: „Gerade wenn man sich aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr wie früher in der Öffentlichkeit bewegen kann, ist das Internet immerhin noch eine Ersatzmöglichkeit, sich mit anderen Menschen auszutauschen. Vielleicht finden Anfänger ja Angehörige, die sie wegen einer Patenschaft in Sachen Technik einspannen können.“ Die Patenschaft finden wir eine klasse Idee!
Doch bevor wir uns weiter in der Gegenwart bewegen, wollen wir ein paar Jahrzehnte zurückgehen. Drei Jahre nach Kriegsende geboren hat Brigitte in über 40 Jahren Berufstätigkeit viel erlebt. Dabei ist sie immer wieder neue Wege gegangen, die für eine Frau ihres Jahrgangs nicht selbstverständlich waren.
Wie erfolgte 1962 Ihr Einstieg ins Berufsleben und welchen Einfluss übten Ihre Eltern dabei aus?
Mit 14 Jahren begann ich eine kaufmännische Lehre in einem Großhandelsbetrieb für Maschinen, Werkzeuge und Autoersatzteile. Der Umstand, dass mir mein Vater schon während meiner Schulzeit vermittelt hatte, Mädchen würden die gleichen Rechte zustehen wie männlichen Wesen, ermutigte mich sowohl in der Lehrzeit als auch später, falls nötig, wehrhaft zu reagieren. Dass es nicht automatisch glücklich macht, auf seinen Rechten um jeden Preis zu bestehen, musste ich im Laufe meines insgesamt 43-jährigen Berufslebens mitunter schmerzlich lernen.
Mein Vater war Arbeiter, eifriger Gewerkschafter und Betriebsratsvorsitzender in einer Metallwarenfabrik und ich es daher schon früh gewohnt, mit ihm und meinem sechs Jahre älteren Bruder über politische Fragen zu diskutieren. Meiner von ihrer Kindheit in einem kleinen Dorf an auf Obrigkeitshörigkeit getrimmten Mutter gefiel das nie so recht. Sie war überzeugt davon, dass man besser damit fahren würde, als Frau möglichst wenig bei Leuten bestimmter Stände aufzufallen. Einer ihrer Lieblingssprüche war im Hinblick auf Nachbarn: „Was sollen denn die Leute von Dir denken?“
Sie haben sich jedoch wenig daraus gemacht, was die Nachbarn denken und waren von Ende der 1960er Jahre bis zur Jahrtausendwende in verantwortlichen Positionen berufstätig. Heute gibt es Netzwerke und Mentoringprogramme, hatten Sie damals Vorgesetzte oder Kollegen, die Sie unterstützt haben?
Missgünstige oder aufgrund ihres besseren Schulvorlaufes oder Studiums hochmütige Kollegen (mehr fast noch Kolleginnen) machten mir in meinen Berufsjahren öfter zu schaffen als Vorgesetzte, die mich überwiegend förderten. „Sie kommen immer schnell auf den Punkt, wenn Sie was erreichen wollen, haben Ideen und begründen sie sachlich. Das gefällt“, hörte ich mehr als einmal. Dass sie automatisch erwarteten, ich als Frau müsse vor lauter Dankbarkeit noch größere Anstrengungen an den Tag legen als meine Kollegen in vergleichbaren Positionen, bemerkte ich erst, wenn ich wieder mal am Rande einer Erschöpfung war.
Das einzige funktionierende Frauennetzwerk in meinem Berufsleben genoss ich während meiner Zeit als Deutsche Bank (DB) Angestellte in Brüssel. Vier der acht Abteilungen wurden dort von Frauen geleitet. Ich war damals Leiterin der Privatkundenabteilung und betreute Diplomaten, EU-Angestellte sowie Chefs internationaler Firmen. Die Genderfrage war noch kein Thema und über 90 Prozent dieser Klientel sowieso Männer.
Mit Anfang 50 beschlossen Sie, beruflich noch einmal neu anzufangen. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Als die Deutsche Bank ab Mitte der 1990er Jahre begann, Angestellte über 50 abzubauen, trug ich mich bereits mit dem Gedanken einer selbstständigen Tätigkeit als Finanzberaterin. Im Anschluss an die Leitung der DB Filiale Bundeshaus in Bonn arbeitete ich zuletzt als Anlageberaterin in der DB Niederlassung Bremen. Aufgrund der bis dahin gemachten wertvollen Erfahrungen wagte ich den Schritt in die Selbstständigkeit im Jahr 2001.
Parallel zu dieser Entwicklung gab es zunehmend Probleme wegen des unaufhaltsamen Siechtums meiner Mutter. Ich ging dem Pflegedienst zur Hand und machte auf dessen Vorschlag ein vierwöchiges Praktikum, um auf einem ganz anderen Gebiet neu zu lernen. Die Leitung dieses Dienstes war bald der Meinung, dass ich mich in dieser Richtung weiter entwickeln sollte, anstatt wieder in den Finanzbereich zurückzukehren. Ich würde meine langjährigen Erfahrungen im Umgang mit Menschen auch in der Pflege gut einsetzen können.
Ich ließ mich überzeugen und bewarb mich an einer Pflegefachschule für eine dreijährige Ausbildung mit dem Ziel, examinierte Altenpflegerin zu werden. Es gab eine Vorstellungsveranstaltung für alle Bewerber, unter denen ich alter Knochen, (damals 55), nicht nur von der Schulkommission schräg angeschaut wurde. Der Leiter der Veranstaltung tat kund, dass man noch nie „jemanden wie mich“ aufgenommen hätte und das deshalb lieber ablehnen möchte. Er wurde erst nachdenklich, als ich erwiderte: „Hatten wir noch nie, war für mich zu keiner Zeit ein Argument.“ Er und seine Lehrkräfte zogen sich daraufhin zur Beratung zurück und kamen zu dem Ergebnis, mit mir ein „Experiment“ wagen zu wollen.
Wie haben Sie den zweiten Berufseinstieg erlebt? Würden Sie sich rückblickend noch einmal dafür entscheiden?
Voraussetzung für die Einschreibung an der Schule war, einen Ausbildungsplatz für die Praxis nachweisen zu können. Ich sprach daher bei der Diakoniesozialstation im Nachbarort vor. Der Leiter, er war ungefähr in meinem Alter, gab sich zunächst amüsiert und meinte, mein Wunsch hätte wenig mit der harten Wirklichkeit in dem von mir angestrebten Beruf zu tun. Ich als Exbankerin würde mich darin wohl kaum zurechtfinden. Auf meine Bitte, er solle es doch auf den Versuch ankommen lassen und erst nach einer dreimonatigen Probezeit darüber urteilen, stimmte er schließlich zu.
Am ersten Schultag wieder scheele Blicke. Wir starteten mit 23 Frauen und einem Mann um die 40. Die jüngste Schülerin war 18, die älteste nach mir 43 Jahre alt. Im ersten Halbjahr wurde ich heftig gemobbt. Eines Tages stellte ich mich entschlossen vor die Klasse und forderte die Hauptdrahtzieher auf, offen mit mir auszudiskutieren, was ihnen nicht passte. Viel brachten sie Auge in Auge nicht zustande. Einige Monate später wählte man mich zur Klassensprecherin. Die jüngste Schülerin gab nach einem Vierteljahr mit der Begründung auf, sie könne das Elend der Patienten nicht verkraften und würde lieber Erzieherin werden. Kurz und gut: Nach drei Jahren waren wir noch zwölf, die das Examen bestanden.
Rückwirkend betrachtet würde ich das alles wieder so machen.
Als Sie vor zehn Jahren aus dem Berufsleben ausschieden, wurde noch nicht so viel vom Pflegenotstand gesprochen wie heute. Wie haben Sie die Arbeitsbedingungen damals erlebt?
Schon als ich 2008 aus dem Berufsleben ausschied, war deutlich erkennbar, dass es in Sachen Kranken- und Altenpflege zunehmend Probleme geben würde. Auch, weil da bereits Investmentgesellschaften verstärkt Interesse an Käufen von Kliniken und Pflegeheimen zeigten. Warum denn wohl? Bei der Akquisetätigkeit dieser Adressen ging es nach meinen Erfahrungen als Bankerin nur um Profit. Wer glaubte, die würden ein Interesse daran haben, Klinikpatienten, zu pflegenden Alten sowie jeglichem Personal in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen Vorteile zu verschaffen, muss damals schon reichlich naiv gewesen sein.
Zudem stand auch zu der Zeit schon ohne diese fatale Entwicklung die Vergütung in der Pflege in einem schiefen Verhältnis zur Schwere der Tätigkeit und im Vergleich zur Bezahlung in anderen Berufen. Schon immer waren außerdem in den Familien von Pflegebedürftigen vorrangig Töchter oder Schwiegertöchtern in hohem Maße belastet, ohne dass sich ihre Arbeit spürbar auf ihre persönliche Altersvorsorge auswirkte. Die Not Angehöriger von Demenzkranken, die lange vergeblich um die Einstufung in eine Pflegeklasse kämpften, erschütterte mich besonders.
Immerhin hat sich inzwischen in finanzieller Hinsicht manches bewegt, aber die körperliche und seelische Belastung der Betroffenen wird von Menschen, die noch nie mit dieser Problematik zu tun hatten, immer noch schwer unterschätzt. Gut, dass es heute, 10 Jahre später, bessere Erkenntnisse zu dem Krankheitsbild Demenz gibt und Beratungsmöglichkeiten wie auch praktische Anleitungen umfangreicher geworden sind.
Gesundheitlich haben Sie mit Ihrer Krebserkrankung viele Höhen und Tiefen durchlaufen. Wie haben Sie diesen gravierenden Einschnitt überstanden? Haben Sie eine bestimmte Strategie, um schwere Zeiten zu bewältigen? Was haben Sie danach in Ihrem Leben geändert und konnten Sie die Veränderung beibehalten?
In den Jahren 2011 bis 2015 kam es für mich mit drei Krebsattacken ziemlich knüppeldick. Chemotherapie, Bestrahlungen und andere Folgebehandlungen überstand ich mit Zuversicht, weil mein Mann mir dabei liebevoll zur Seite stand. Auch zu drei Kuren begleitete er mich, sodass ich aufkommende depressive Anwandlungen bereits in den Anfängen überwinden konnte. Schlimmer traf es mich, dass seine Gesundheit im gleichen Maße abnahm, wie ich mich erholte. Unser Zusammenhalt ist heute allerdings stärker als je zuvor in unserem 40-jährigen Zusammenleben, davon 35 mit Stempel.
In meinem Adressbuch habe ich in diesen Jahren etliche Personen gestrichen, die mir ohne jede Empathie unnötige oder diktatorische Ratschläge gaben oder mir klarmachen wollten, dass Krebs als Strafe für Schuld auftritt. Manche bekundeten sogar, sie möchten sich zurückziehen, weil Schwerkranke ihnen zu sehr aufs Gemüt schlagen würden. Dafür gewann ich fünf neue Freundinnen, ebenfalls Krebspatientinnen, die ich während dieser Zeit kennen- und schätzen lernte. Wir treffen uns dreimal im Jahr zu gemeinsamen Unternehmungen. Allen geht es bis jetzt gut, auch der Jüngsten wieder, die während der Chemo von ihrem Mann verlassen wurde und jetzt einen neuen, verständnisvollen Partner hat.
Heute ist Ihr Ehemann Dialysepatient. Sie unterstützen ihn, wo Sie nur können. Haben Sie die Spende einer Niere in Erwägung gezogen?
Mein Mann muss seit Ende 2016 dreimal wöchentlich dialysiert werden. Schon im Laufe des Jahres 2014 war ihm diese Entwicklung bei seiner Vorstellung in der Nephrologie im Uniklinikum Hamburg-Eppendorf vorhergesagt worden. Da ich den Wunsch hatte, ihm eine Niere zu spenden, aber nach meinen Brustkrebsattacken mindestens fünf Jahre Wartezeit nachweisen musste, legte man dort dennoch von mir vorsorglich eine Akte an. Unsere Werte passten grundsätzlich zueinander, meine Neuerkrankung in 2015 machte allerdings weitere Überlegungen dazu erst mal wieder zunichte.
Inzwischen wissen wir, dass bei den Mehrfachbeeinträchtigungen hinsichtlich der Restgesundheit meines Mannes eine Nierentransplantation ohnehin zu risikoreich für ihn wäre. Er kommt mit der Dialyse gut zurecht und lächelt nachsichtig, wenn ihn jemand wegen dieser doch „sicher schrecklich schlimmen Prozedur“ bedauert. Ich wünsche mir dann, dass diese Leute begreifen könnten, dass Dialyse für ihn die einzige noch mögliche Überlebenschance ist.
Seit dem Eintritt in den Ruhestand haben Sie einige Bücher veröffentlicht. Wie ging es mit dem Buchschreiben los? War es für Sie schwierig, einen Verlag zu finden?
In der Endphase meiner beruflichen Tätigkeit fing ich an, Tagebuchaufzeichnungen und Familiendokumente zu ordnen, um daraus für den engsten Familienkreis eine Art Manuskript zu erstellen. Eine gute Bekannte, Professorin für Germanistik an der Uni Bremen, las es und überredete mich, es nicht nur in eine Schublade zu legen. Ich solle es schon deshalb veröffentlichen, weil es anderen Frauen Mut machen würde. Ich überlegte lange, weil ich mit postwendend darauf einsetzenden harschen Kommentaren lieber Mitmenschen rechnete. Mein Mann gab den Ausschlag mit der Bemerkung: „Jetzt kannst Du beweisen, dass es Dir inzwischen egal ist, wie man über Dich urteilt.“
Einen Publikumsverlag für das Buch zu begeistern, war schier unmöglich. Die Veröffentlichung über Books on Demand (BoD Norderstedt) habe ich nie bereut, weil das Buch damit über jede Buchhandlung bezogen werden konnte. Meine Lesungen daraus im Walter-Kempowski-Haus in Nartum/Niedersachsen sowie die aufgrund einer Einladung des Goethe-Institutes in Dallas/Texas, werde ich immer in besonderer Erinnerung behalten.
Näheres können Interessierte dazu auf brigitte.cleve-books.de unter der Sparte Neuigkeiten nachlesen, wenn sie bis 2009 zurückscrollen.
Welches Ihrer zehn Werke liegt Ihnen am meisten am Herzen und warum?
„Werde ich im Winter noch Blumen finden“, ist nach wie vor mein Lieblingswerk. Gefolgt von meinem Roman „Meerraben“, der noch heute wirkende Traumafolgen bei nicht wenigen im letzten Krieg Geborenen spiegelt. Während Recherchearbeiten für drei Sachbücher mit Flensburgthemen sammelte ich Aussagen von damaligen Flüchtlingen. Diese brachte ich in die Romanhandlung rund um den Lebenslauf der Protagonistin Lina Martens ein.
Liebe Frau Cleve, wir danken Ihnen von ganzem Herzen für Ihre Offenheit und das schöne Interview mit spannender Zeitreise. Ihnen und Ihrem Ehemann wünschen wir weiterhin alles Gute und viele gemeinsame Reisen an Orte mit guter Betreuung in Dialyseeinrichtungen.