Der Sommer ist da! Und wir sehen immer mehr enthaarte Bikinizonen, rasierte Achseln und blanke Beine. Woher kommt dieser Rasurwahn? Und warum ist es so schwierig geworden, sich dem Thema Haare nicht einmal mehr um Haaresbreite entziehen zu können? Unsere Kolumnistin Livia Karrenberg widmet sich in ihrer aktuellen Kolumne dem Thema Rasur und wagt einen Erklärungsversuch.
Ideologische Identität wird heute weniger durch das Haar symbolisiert als früher
Haare symbolisieren Stärke, Gesundheit, Geschlechtsreife und Ausdruck von Identität. Eine lange verführerische Mähne wirkt sinnlich und erotisch. Ein Kurzhaarschnitt wird häufig als ” frech” tituliert. Haare auch ein Symbol der Freiheit, man erinnere sich an die 68er Genration, bei der sich Männer lange Bärte wachsen ließen. Dieser Trend ist wieder da, wobei es inzwischen eine eher modische Frage ist, wie Mann sein Haar oder seinen Bart trägt.
Als ich noch sehr jung war, spielten Haare eine untergeordnete Rolle. Die meisten Frauen rasierten ihre Achselhaare nicht und hatten trotzdem modische Eleganz. Auch Männer wären damals niemals auf die Idee gekommen, sich ihr Schamhaar geschweige denn ihre Brusthaare zu stutzen. Oder könnten Sie sich “Thomas Magnum” haarlos vorstellen?!
Und dann kam heute!
Auf Einkaufsstraßen reiht sich gefühlt eine Haarentfernungsbude an die andere. Es wird gewachst („Waxing“), gezupft („Epilation“), gestutzt („Depilation“), gezuckert („Sugaring“ = Haarentfernung mit gescholzenem Zucker) und mit Lichtimpulsen (IPL) enthaart. Und zu guter Letzt gibt es auch noch Brow-Bars. Ja! Es existieren tatsächlich Salons, die sich einzig und allein mit Augenbrauen beschäftigen. Soviel Lärm um (fast) nichts ist heute keine Haarspalterei mehr, sondern vielmehr zu einer ästhetischen Frage für alle Frauen ab 15 geworden.
Was hat sich denn in unserer Gesellschaft geändert, dass Frauen dazu bereit sind, viel Geld für Haarentfernung auszugeben?! Das steht doch im Gegensatz zu den Haartrends der Männer, die ihr Haar tragen können, wie sie wollen. Auf der einen Seite ist unsere Gesellschaft viel freier geworden, was die Toleranz in Bezug auf die Haartracht angeht. Auf der anderen Seite ist es für Frauen viel schwieriger geworden, Individualität oder Natürlichkeit zu leben – zumindest was die Körperbehaarung angeht.
Null Toleranz und Haarspalterei
Wenn Sie auf YouTube “Haare” und “Körper” als Suchbegriff eingeben, werden sie nur Videos finden, in denen Damen im Selbstversuch 1 Jahr lang darauf verzichten, sich zu rasieren. Mit einem niederschmetternden Ergebnis: Sie werden demütigend oder argwöhnisch angesehen und bekommen auch mal die rote Karte von dem neuen potentiellen Mann ihres Herzens. Es scheint, als sei unsere Gesellschaft in Punkto Haarmode gespalten. Auf dem Kopf ist alles erlaubt, am Körper hingegen ist die Haarentfernung obligatorisch.
Warum also hat sich dieser Trend so immanent etabliert?
Ich habe da eine Vermutung…
Von was lässt sich der Großteil der Bevölkerung so beeinflussen? Obwohl man heute sein Kopfhaar oder seinen Bart tragen kann wie man möchte, haben wir an Freiheit nichts dazugewonnen, was sich darin ausdrückt, dass Körperhaare bei Frauen verpönt sind.
Ich vermute, dass die Antwort in einer ganz lebensfernen Ästhetik liegt – dem Pornofilm! Denn durch die fortschreitende Digitalisierung sind Pornos immer und überall präsent. Dabei ist leider festzustellen, dass die Darsteller – insbesondere die Darstellerinnen – so stark rasiert sind, dass ihre Körper ohne das Silikon eher wie präpubertäre Körper daherkommen. Und um dem mehr als schlichten “Anspruch” des Pornos gerecht zu werden, muss man eben haarfrei sein. Bedauerlicherweise hat dieser Trend insbesondere die mittleren und jüngeren Generationen so stark infiltriert, dass man sich inzwischen schon rechtfertigen muss, wenn man körperlich nicht wie eine 10 jährige mit Busen anmuten möchte.
In Punkto vollumfänglicher Toleranz, findet unsere Kultur wohl immer wieder das Haar in der Suppe. Oder halt am Körper…